In seinem Wörterbuch der deutschen Sprache versucht Johann Heinrich Campe (1746-1818), jenes oft unbestimmte Gefühl zu erfassen, das man „Sehnsucht“ nennt: Sehnsucht, schreibt er, sei „ein hoher grad eines heftigen und oft schmerzlichen verlangens nach etwas, besonders wenn man keine hoffnung hat das verlangte zu erlangen, oder wenn die erlangung ungewisz, noch entfernt ist“.
Genau diese Form der Sehnsucht empfinde ich in diesen Zeiten von Tag zu Tag immer stärker. Als Hochrisikopatient darf ich das Haus höchstens für einen Gang durch meine Gärten verlassen. Ich erlebe Straßen und Plätze der Stadt nicht mehr, ich begegne keinen Freunden, sondern ausschließlich Mitgliedern meiner Familie.
Die heftiger werdende Sehnsucht bezieht sich nicht einmal auf die Ferne oder jene Fantasien, die man sonst mit ihr verbindet (einem bestimmten Raum/einem bestimmten Menschen nahe zu sein), sondern auf den früheren Alltag.
Dessen Szenen melden sich häufig, und ich träume fast jede Nacht von ihnen: Auf dem Erzbergerplatz in Köln in der Sonne zu sitzen, ein Buch zu lesen, mit Kopfhörern Musik zu hören und den Kindern beim Spielen zuzuschauen. Durch die Markthalle in Stuttgart zu gehen und mich mit dem Leiter der Fischabteilung freundschaftlich zu unterhalten, während auf dem kleinen Gasherd eine bretonische Fischsuppe brodelt. Auf dem Kirchplatz von Wissen/Sieg vor dem Café Alzen auf P zu warten, um wieder einmal die Deckengemälde des Kölner Dommalers Peter Hecker in der Wissener Kirche zu studieren und hinterher in den Marktstuben einen Eintopf zu essen.
All das habe ich sehr viele Male in meinem Leben gemacht. Jetzt erscheinen mir diese Szenen aus dem Rückblick unendlich kostbar. Die Coronazeiten mit ihrem verhängten Stillstand haben sie geadelt und lassen mir den Alltag des vergangenen Lebens als einen schönen Traum erscheinen, aus dem ich mit Gewalt vertrieben worden bin.
Ich bin keineswegs sicher, wieder in das alte Leben zurückzufinden. Ich denke, das neue wird ganz anders sein. Mehr möchte ich darüber gegenwärtig nicht behaupten. Es wäre zu vorschnell und momentan auch unangebracht.
Jetzt geht es vielmehr darum, das Leben in dieser merkwürdigen Form von Gefangenschaft zu gestalten: Schreiben, Lesen, Klavierspielen, Gemälde und Fotografien betrachten, Filme anschauen – und (gerührt, ja richtiggehend gerührt) den wild gewachsenen Pflanzen in meinen Gärten zuzuschauen: Wie sie das Licht an sich reißen, wie sie sich räkeln, wie sie nichtsahnend ein schönes Leben zelebrieren.
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