Zeitenwende (in Zeiten des Coronavirus 29)

(Am 11. April auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger)

Seit Mitte März haben sich in meinen Freundeskreisen mehrere Lager gebildet, die sich durch ihre Einschätzung der gegenwärtigen Zeitenwende unterscheiden. So gibt es das Lager derer, die das Früher als etwas inzwischen sehr Fernes betrachten, das nie mehr zurückkommen wird.

Laufend zucken sie schon bei alltäglichen Beobachtungen zusammen – wie etwa Petra, Verwaltungsangestellte knapp über Fünfzig. Sie kann bereits die in alten Zeiten produzierte Werbung vor den TV-Nachrichten nicht mehr ertragen. „Was diese angeblich Kranken für Sorgen haben!“ stöhnt sie. Sogar den üblichen Spruch nach jeder Arzneimittelwerbung würde sie sofort abschaffen. Auf Risiken und Nebenwirkungen bei Medikamenten gegen Fusspilz, Stechmücken oder Blähungen aufmerksam zu machen, kommt ihr zynisch vor. „Die Zeiten, in denen wir wegen solcher Wehwehchen Dramen aufführten, sind für immer vorbei!“

Ein zweites Lager besteht aus all jenen, denen die Ereignisse der letzten Wochen wie ein schwerer Alptraum erscheinen. Laufend sehen und hören sie die neusten Nachrichten, die sich unaufhörlich wiederholen. Genau danach und dem sich dominant breitmachenden Coronagequassel sind sie geradezu süchtig.

Was hat Markus Söder über die Pläne von Olaf Scholz gesagt? Und was wiederum Olaf Scholz über das Blinzeln der Kanzlerin? Jeder kleinen Nuance des täglich durchgerüttelten Nachrichtensets spüren sie nach – und das letztlich nur, weil sie noch immer nicht richtig glauben können, was gerade geschieht. Als Ungläubige lassen sie es sich tausendmal sagen und schütteln den Kopf und murmeln vom frühen Morgen bis in die Nacht: „Man glaubt es nicht…“

Ein drittes Lager (oft akademisch und über die Künste gut informiert) möchte nicht mehr über die blasse Vergangenheit reden, sondern erwartet eine starke Zukunft. Im besten Fall sitzen dann alle Gutwilligen in Vorlesungen, Seminaren und Übungen und lernen, auf anspruchsvoll philosophische Form nachdenklich und ernst zu werden.

Ihre Bibel ist das schöne Buch über das „Alltagsleben“, das die ungarische Philosophin Agnes Heller schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Darin erhalten auch die scheinbar banalen Dinge samt Alltag im Zusammenklang mit menschlichem Agieren und Aneignen ihren hohen Wert. Bewusst und konzentriert verbinden wir uns mit unseren früher unterschätzten Umgebungen und werden jedes Vorhaben einer Prüfung im Blick darauf unterziehen, ob es wirklich Bestand haben könnte.

Das vierte Lager ist das leiseste, wächst aber von Tag zu Tag. Seine Mitglieder raunen, dass wir gerade eine Art Strafgericht erleben. Der allmächtige Gott oder die geschundene Mutter Natur oder eine andere mächtige Gewalt mit Sinn für Apokalypsen bremst die Weltkugel aus. Wir wissen nichts mehr genau, wir planen hilflos, wir eiern nur noch herum – und nur wenige von uns werden entkommen. Solche Zweifler glauben nicht mehr an die Vernunft, Ideen oder kluge Projekte, sie beten stattdessen. Beten, still werden, abwarten, nie mehr auftrumpfen – an solche Anweisungen halten sie sich in Demut.

Und schließlich gibt es noch jene, die sich momentan solchen Debatten komplett entziehen. Sie lesen, hören und spielen viel Musik, sehen Filme, tauschen sich mit ihren Freunden aus, entdecken alte Vorlieben wieder. Wenn alles vorbei ist, wird man sie als die aufmerksamen Agenten einer anderen Zeit wahrnehmen. Dann werden sie sagen, was sie zu sagen haben, und man wird ihre Geschichten dieser Zeitenwende erfahren, erstaunt und verblüfft – als hätten sie diese Geschichten erfunden.