Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) war seit den Jugendjahren eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen. Besonders mochte ich jene Prosabände, deren Texte ich für Prosagedichte hielt. Es waren keine Texte in Zeilen, Strophen oder gar Reimform, sondern kurze, oft nur wenige Seiten lange, stark rhythmisierte und klanglich ausgefeilte Prosastücke (Engelsbrücke/Orte).
Als ersten dieser Texte habe ich Beschreibung eines Dorfes (1966) kennengelernt. Das Buch war eine Art Prosagesang auf den kleinen Ort Bollschweil, in dem Marie Luise Kaschnitz aufgewachsen ist.
Es regte mein starkes Interesse für Texte an, in denen Schriftstellerinnen und Schriftsteller übersichtlichen Kindheitsräumen nachgehen und sie mit ihren Straßen, Häusern, Menschen und Dingen (oft auch fiktiv) porträtieren.
Das amerikanische Gegenstück zur Beschreibung eines Dorfes war Sherwood Andersons Winesburg, Ohio (1919), ein Buch, das großen Einfluss auf die Notate und kurzen Erzählungen hatte, die ich selbst über meinen Kindheitsort Wissen/Sieg (zunächst nur für mich selbst) schrieb.
2009 sind diese Notate in eine Rede (Mein Traum von Wissen an der Sieg) eingegangen, die ich zur Eröffnung des dortigen Kulturwerks hielt. In meiner Fantasie lud ich den Bundespräsidenten zu dieser Eröffnung ein, um ihm meine eigene „Beschreibung eines Dorfes“ in festlicher Form zu präsentieren.
Zehn Jahre später ereignete sich dann aber ein kleines Wunder. Frank Walter Steinmeier kam zum zehnjährigen Jubiläum des Kulturwerks mit seiner Frau Elke Büdenbender wahrhaftig nach Wissen. Meine Fantasie war Wirklichkeit geworden.
Den Text meiner Rede findet man in meinem Westerwald-Buch (Im Westerwald, 2019 erschienen). Und meine Lesung der Rede findet man hier: