Nachrichtenüberdruss

(Heute auch als Kolumne im Kölner „Stadt-Anzeiger“, S.4)

Bleib gesund! – mein Freund Jürgen kann es nicht mehr hören. Er plädiert dafür, einen ganzen Tag einzulegen, an dem man das Wort „Corona“ nicht in den Mund nimmt. Was gegenwärtig auf vielen Fernsehkanälen läuft, nennt er „das Coronageschnatter“. Brauchen wir wirklich, fragt er, an jedem Abend ein heute spezial und ein ARD Extra? Sendungen, in denen die täglichen Nachrichten breit getreten und bis zum Überdruß wiederholt werden?

Reicht es nicht, wenn Petra Gerster und Jan Hofer sie in angenehm sachlich-neutralem Ton, ohne rote Flecken an Wangen und Hals, vortragen? Selbst eine sonst so wohltuend biedere Sendung wie das Morgenmagazin ist längst auf die neuen Galopperthemen des Frühjahrs umgestiegen. Coronabesessen leuchten die Augen der sich im Sicherheitsabstand aalenden Moderatoren, während in den Talkshows immer dieselben Experten epidemiologische, ökonomische und ethische Expertisen abgeben. In jeder zweiten Sendung Markus Söder und Karl Lauterbach! Auch die Virologen schlafen kaum noch, um bereits frühmorgens gehorsam die ersten Statements zu liefern und die Stirn in Falten zu legen.

Dass ein einziges Thema Denken und Sehen derart dominiert, ist so noch nie vorgekommen. Starke Themen mit besonderem Zuschauerinteresse wurden sonst höchstens ein paar Tage lang durchgehechelt und verschwanden danach wieder im TV-Nirvana. Jetzt aber folgen die Sender den Lockerungsmodellen nicht, die der Politik gerade durch den Kopf gehen. Sie sollten, ginge es nach meinem Freund Jürgen, allmählich auch den Radius erweitern. Die Welt besteht nicht nur aus Corona, weiß Gott nicht. Sich vom frühen Morgen bis in die Nacht dem Dominanzthema zu unterwerfen, sollte eine auf Normalität rückgepolte Vernunft verbieten.

Als Deutschlehrer an einem Gymnasium leidet Jürgen auch unter den gängig gewordenen Videokonferenzen. Er versteht nicht, warum so viele seiner Kollegen dieses digitale Leben gerade wie eine Errungenschaft feiern. Nach seinen Eindrücken ermüden Videokonferenzen sehr rasch. Er quält sich durch die Sendeminuten, hört kaum noch zu, beschäftigt sich im Kopf längst mit anderen Themen und ist höchstens froh, dass solche Sessions nicht so lange dauernd wie die analogen Konferenzen. Immerhin könnten sie dazu beitragen, den Konferenzenvirus früherer Tage zu bekämpfen. Die damit Infizierten haben jetzt endlich mehr Zeit für die eigene Arbeit, ohne dass man alles stundenlang mit den Nächsten durch den Gesprächswolf drehen muss.

Die Krise, glaubt Jürgen, wird die Welt nicht grundlegend verändern. Im Idealfall könnte sie helfen, starke Korrekturen an Auswüchsen der alten Optimierungskultur durchzuführen. Dass vieles früher richtig schwachsinnig war, meint Jürgen, wird einem erst jetzt richtig klar. Mit dieser Einsicht ließe sich vieles verbessern und ändern, wenn…, ja wenn man nicht vierundzwanzig Stunden nur noch mit Nachrichtenimpfungen beschäftigt wäre.