Ein Rückblick auf die Coronawende

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Zwei Monate nach Beginn der Coronazeiten lohnt ein erster Rückblick. Wie hat sich das Fühlen und Denken der Menschen in meiner Nähe verändert?

Was ich zuerst sehe: Die Wohnung, das Haus, die Straße. Menschen und Dinge, die sich in diesem Umkreis befanden, erhielten eine stärkere Bedeutung. Sie wurden intensiver wahrgenommen, Nachbarschaften wurden gepflegt, Sympathien füreinander deutlicher erkannt. Die Bewegungsbeschränkungen führten zu einem größeren Interesse am häuslichen Wohnen und an den Dingen, die einen täglich umgeben.

Legendär sind bereits die Aufräumarbeiten in den eigenen vier Wänden, im Keller und auf dem Speicher. Vor den Häusern türmten sich Landschaften von Sperrmüll, und die Baumarkteinkäufe führten zu einem vermehrten Interesse am Raum. Neu tapezieren und streichen, andere Bilder und Farben – manchmal sah es so aus, als stünden in der Zukunft besondere Feste bevor, für die alles hergerichtet sein sollte.

Neben der näheren Umgebung rückte der eigene Körper vermehrt in den Blick. Viele dachten erst jetzt darüber nach, was man so alles mit ihm anstellen kann. Gymnastik zu Hause, Joggen und Fahrradfahren standen hoch im Kurs. Ergänzend kam es zu Ernährungsdebatten: Was isst die Familie, wenn alle Mitglieder zusammensitzen? Wer gibt den Ton an? Wer verweigert welche Speisen mit welchen Argumenten?

Selbstversorger mit Gemüsebeeten im Garten wurden beneidet, und Kochen wurde zu einer oft aufwändig betriebenen Beschäftigung. Einkäufe wurden daher sorgfältig geplant, und ich kenne so manchen Bekannten, der plötzlich mit einer Excel-Tabelle in der Hand zum Supermarkt zog. Sie war das Ergebnis der häuslichen Debatten – gekürzt, erweitert und umgeschrieben ein ideales Material für Soziologen!

Untersuchen werden die Forscher auch veränderte Strukturen der Geselligkeit. Ihre früher beliebtesten waren mit gemeinsamen Mahlzeiten in Kneipen und Restaurants oder kulturellen Live-Ereignissen verbunden. Deren Wegfall führte zur großen Zeit der Kleindarsteller, Solisten und Minigruppen. Sie nutzten die digitalen Formate.

Wie überhaupt die digitalen Medien zu Fundamenten der Corona-Kommunikation wurden. Schulstunden und Universitätsseminare im Netz verlangten einen neuen Typus des Lernenden. Es waren Schüler und Studenten, die das Zeitmanagement beherrschen, Themen und Gesprächen konzentriert folgen können, eigenständig weiterarbeiten und die Älteren beratend unterstützen, wenn deren Home-Office-Kenntnisse versagen.

Die Informationsbranchen waren wieder stärker gefragt. Die Talkshows verwandelten sich in Zwiegespräche zwischen Politikern und Virologen, und so manche TV-Sendung konnte nicht genug von der Redundanz der neusten Meldungen bekommen. Die Kulturseiten der Tageszeitungen dagegen liefen zu Höchstformen auf. Seit langem wurde dort nicht mehr so substanziell in vielen neuen Formaten nachgedacht und über die Hintergründe der Krise debattiert.

Schließlich der schwierigste und beklemmendste Bereich: Die Finanzen! Die Coronawende verlangt von den Meisten komplette Umbauten des Finanzsektors. Viele sind gezwungen, Tabula rasa zu machen und den Weg in die Zukunft minuziös zu planen. Das macht aus Paaren und Familien kleine Wirtschaftsunternehmen, die den Anteil jedes Einzelnen am aufzubringenden Kapital kalkulieren. Auch dieser Bereich erlebt das Aufblühen der Excel-Tabellen, mit deren Hilfe die Zukunft wenigstens vage Strukturen erhalten soll.

All diese Prozesse der Coronawende werden zu starken Umdispositionen der gesellschaftlichen Strukturen führen. Wer profitiert? Wer gerät meist unverschuldet ins Abseits? Studierende des Faches Soziologie stehen zusammen mit ihren Lehrern vor großen Themen und Aufgaben.