Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast (am besten liest man sie in der schmalen Ausgabe des Reclam-Verlages, griechisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Dietrich Klose) sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.
Die dreißig kurzen Texte gelten Figuren wie etwa „dem Redseligen“, „dem Bedenkenlosen“, „dem Gerüchtemacher“ oder „dem Spätgebildeten“. Theophrast seziert nicht ihre Psyche, sondern zeigt, wie und woran man sie erkennt. So erzählt er von ihrem Tun und Lassen bis in die Details ihrer Selbstdarstellung. Sein Büchlein wurde dadurch auch zu einem Grundlagenbuch für Epiker und Dramatiker, die erfuhren, wie man einzelne Figuren vorstellt und entwickelt.
Ich folge Theophrast und schreibe eine kleine Studie in seiner Manier. Sie gilt dem „Enthusiasten“.
- Der Enthusiast schwingt die Flügel der Einbildungskraft. Mit ihrer Hilfe fliegt er in Richtung zukünftiger Ländereien, die er unbedingt verwirklicht sehen möchte.
- Spricht er von ihnen, gerät er in einen Rausch. Glühend vor Begeisterung, malt er die Zukunft aus.
- Wendet man dies oder das gegen sein Schwärmen ein, reagiert er empfindlich, oft sogar beleidigt.
- Seine Träume gehören anfänglich nur ihm, so solitär sind sie gebaut. Verwirklichen will er sie aber mit anderen, von denen er umstandslos annimmt, dass sie ebenfalls Enthusiasten sind.
- Nichts verabscheut er so sehr wie Bedenkenträger oder Menschen, die jeden Schwung durch Einwände ausbremsen.
- Hat er sich einem Ziel verschrieben, verwendet er allen Eifer, es zu verwirklichen, bis hin zur Selbstaufgabe.
- Durch seine starke Empfindlichkeit saugt er von allen Seiten Begleitung an: Bilder, Musik, Tanz – alles, was ihn auch nur entfernt berührt, nimmt er auf seinen Ritten und Wegen mit.
- Kappen böse oder finstere Mächte seinen Lebensernst, klappt er zusammen und regt sich nicht mehr.
- Er ist und bleibt ewig jung. Nicht einmal vorstellen kann er sich, dass er altert oder seine Pläne etwas Gestriges haben könnten. In seinen Augen sind sie die Glanzlichter einer besseren Zeit.
- Gerät er einmal außer sich, weil ihn sein großer Schwung fortträgt, lädt er alle rasch zum Essen und Trinken ein. Sein finaler Traum ist das große Fest.