Was von Corona bleibt

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Neulich las ich einen Artikel des Schriftstellers Cees Nooteboom, in dem er darüber nachdachte, was von Corona bleiben könnte. Die Welt werde nicht mehr so sein wie früher, schrieb er, denn die Zeiten der Stille seien so tief in unseren Köpfen gespeichert, dass wir sie nie mehr vergessen würden. Corona als traumatisches Erlebnis, das uns noch in unseren Träumen und Albträumen lange beschäftigen wird?

Ich habe darüber mit meinen Freunden gesprochen, sie waren zunächst geteilter Meinung. Einer erzählte von seiner Reha, die er vor einigen Jahren in einer Klinik verbracht habe. Er hatte sich dem Reglement der Ärzte untergeordnet und sich bei seiner Entlassung geschworen, den wiederhergestellten Körper auch weiterhin streng unter Kontrolle zu halten. Schon zwei Wochen später hatte er die guten Vorsätze über Bord geworfen und bewegte sich, rauchend, trinkend und zu viel essend, wieder im alten Trott.

Ein anderer Freund erzählte davon, dass er vor allem während des ersten Coronamonats an sich selbst eine „Umwertung der Werte“ wahrgenommen habe. Menschen, Dinge und Ereignisse, denen er zuvor noch einige Aufmerksamkeit geschenkt habe, hätten sich plötzlich als banal und überflüssig erwiesen. Richtiggehend abgestoßen sei er von Nachrichten über Sophia Thomalla, die Gehaltsforderungen von Manuel Neuer oder die Diät-Probleme der britischen Royals gewesen. Auch habe er sich nicht mehr vorstellen können, jemals wieder an einer Kreuzfahrt teilzunehmen oder mal eben für ein Wochenende auf die Kanaren zu fliegen. Der überdrehte, verschwenderische, unreflektierte Luxus habe ihn angeekelt, und dieser Ekel sei geblieben, bis jetzt.

Solche Erfahrungen hatten auch andere Freunde gemacht. Einer berichtete von der positiven Kehrseite des Selbstekels, die zu einer stärkeren Anteilnahme am Leben anderer Menschen geführt habe. Mehr Mitgefühl als früher habe er gespürt und sich nach freiwilligen Hilfsdiensten für ältere und kranke Menschen erkundigt. Inzwischen sei er nebenbei als Fahrer für eine caritative Organisation unterwegs und könne sich nicht mehr vorstellen, damit wieder aufzuhören. Die Dankbarkeit der Hilfsbedürftigen tue ihm nämlich gut, und er habe das Gefühl, etwas Sinnvolles zum Leben anderer beizutragen.

Also doch?! Sind die stillen, einschneidend wirkenden Coronazeiten stärker als das Reglement in einer Reha-Klinik? Ja, behaupten die meisten Freunde, sie wirken stärker, weil es kollektive Ereignisse sind. In ihnen erleben wir uns nicht als prinzipiell heilbare, singuläre Gestalten mit individuellem Schicksal, sondern als kollektive Wesen, deren Handeln positive oder negative Konsequenzen für alle hat. Ein wegschauendes Handeln mit dem Blick nur auf sich selbst steht unter Verdacht. Schon wer sich nicht ausreichend informiert und lieber den Kopf in den Sand steckt, kann andere Menschen in Lebensgefahr bringen. Auch deshalb ist die Angst trotz der Lockerungen momentan noch da.

Die Menschen halten Abstand und tragen Mundschutz nicht deshalb, weil sie Geboten und Regeln folgen, sondern weil sie den Tod vor Augen hatten. Eine so furchtbare Erfahrung hinterlässt tiefe Spuren, auch wenn sie nicht laufend spürbar sind. Sie haben sich jedoch längst in unsere Erfahrungswelt eingegraben. Seit Corona bewegen wir uns vorsichtiger, halten häufiger inne, driften in Tagträumen ab und stellen vieles infrage. So gesehen, hat Cees Nooteboom mit seinen Andeutungen recht. Wir werden aber nicht nur schwerer träumen und aufmerksamer atmen, nein, wir werden noch lange mit dem „zweiten Blick“ leben. Er wird das früher fraglose Dasein durchdringen und die tiefen Schatten wahrnehmen, die sich seit Corona mit ihm verbinden.