Charaktere 3

Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast (am besten liest man sie in der schmalen Ausgabe des Reclam-Verlages, griechisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Dietrich Klose) sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.

Die dreißig kurzen Texte gelten Figuren wie etwa „dem Redseligen“, „dem Bedenkenlosen“, „dem Gerüchtemacher“ oder „dem Spätgebildeten“. Theophrast seziert nicht ihre Psyche, sondern zeigt, wie und woran man sie erkennt. So erzählt er von ihrem Tun und Lassen bis in die Details ihrer Selbstdarstellung. Sein Büchlein wurde dadurch auch zu einem Grundlagenbuch für Epiker und Dramatiker, die erfuhren, wie man einzelne Figuren vorstellt und entwickelt.

Ich folge Theophrast und schreibe selbst eine kleine Studie in seiner Manier. Sie gilt der Promovendin.

  • Die Promovendin behandelt alles so, als müsste sie darüber eine Doktorarbeit schreiben.
  • Jedes Ding und jedes Ereignis werden von ihr so lange von allen nur erdenklichen Seiten betrachtet, bis sie sich bis zur Unkenntlichkeit verwandelt haben.
  • Die vielen Perspektiven der Betrachtung spricht sie laut aus. Nagelt man sie auf eine bestimmte fest, zieht sie sofort die Karte einer anderen.
  • Widmet man sich mit ihr einem Projekt, beginnt sie mit Gliederungen eines möglichen Erstens, Zweitens, Drittens, a, b, c…
  • Sie liebt Einschübe, Absätze, Interpunktionen. Jedem noch so simplen Hauptsatz eröffnet sie weite Felder möglicher Nebensätze, Streiflichter und Pausen.
  • Ist man mit ihr zu Fuss unterwegs, zieht sie in Gedanken die Register sämtlicher Witterungen und Wetterverhältnisse, die einem begegnen könnten.
  • Hat man Geburtstag, gratuliert sie einem mit dem Blick auf die möglichen Sterbedaten, unter besonderer Berücksichtigung der in Frage kommenden Lebensweisen, die sie vielschichtig ausmalt.
  • Soll sie einen Titel, eine Überschrift oder ein Thema formulieren, macht sie daraus einen Bandwurm nach dem Vorbild von Titeln barocker Romanautoren.
  • Unterhält man sich mit ihr länger, blickt sie einen durchdringend an. Wie eine gute Schachspielerin mutmasst sie, was einem als nächstes einfallen könnte. Dafür hält sie mindestens zehn Erwiderungen parat.
  • Plant man mit ihr eine gemeinsame Mahlzeit, ist man mit ihr tagelang unterwegs, um die adäquaten Zutaten an adäquaten Orten zu adäquaten Preisen zu erstehen.