(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Die viel zitierte „große Stille“ und die noch häufiger genannte „gähnende Leere“ sind aus unseren Städten verschwunden. In Köln kommen mir meine Freunde mit weit ausgebreiteten Armen entgegen und tanzen (wenn auch in gebotener Distanz) so manchen Straßenblues, dass es knistert. Nicht nur die Lebensbedingungen sind lockerer geworden, viele erzählen von den Coronazeiten auch bereits mit dem heiteren Blick auf etwas Unglaubliches, das Pfeffer ins sterile Früher gebracht hat.
Unterhalte ich mich mit meinen Freunden bei zwei oder auch drei genehmigten Kölsch jedoch etwas länger, gerinnt die Heiterkeit von Minute zu Minute. Ich bemerke es am Mienenspiel, an der sich anschleichenden Nachdenklichkeit, an einem kurzen Erstarren oder daran, wie sie sich durch die zerzausten Haare fahren. Dann kippt der zuvor noch lockere Blues und wird ernst, und es ist etwas zu erkennen, das es früher nicht gab: Tiefe Traurigkeit.
Nein, es ist keine Trauer, kein Innehalten wegen eines schweren Verlusts, es ist auch keine Melancholie, keine gedämpfte Nachdenklichkeit, sondern genau das, was das urdeutsche Wort „Traurigkeit“ meint. Etwas Bodenloses, die Erinnerung an Vergangenes, das der alte Fontane als „unwiederbringlich“ bezeichnete. Die früheren Zeiten werden nie wiederkommen und sind für immer vorbei. In bereits vager werdenden Bildern hat man sie noch vor Augen. Es waren Zeiten, in denen man sich ohne langes Nachdenken begegnete, hierhin und dorthin reiste und sorglos in den Tag lebte. Jetzt dagegen bedarf es für jede kleine Aktion eines Anlaufs und genauer Planung. Darf ich, will ich, soll ich? Solche Fragen grundieren ein Gefühlschaos, das noch größer wird, wenn die Nächsten ihr eigenes Chaos beisteuern.
Unsere Dichter nannten es „stille Traurigkeit“, und sie beschrieben das Mienenspiel der so Mitgenommenen mit dem „gesenkten Blick“, einer „Ermattung“, die nach unglücklich verbrachten Zeiten zunächst unmerklich einsetze. Erstarkt sie und wird manifest, entstehen Depressionen, die schwerer wiegen. „Traurigkeit“ ist dagegen eher eine plötzlich auftauchende Anwandlung, die langsam vergeht, um bald ungefragt und heftiger wie eine Welle wiederzukommen.
So konturiert sie unseren neuen Alltag. Wir leben mit ihr wie mit einem Schauer, der sich nicht mehr abschüttelt lässt. Die Frage ist, in was sie sich einmal verwandelt. In Reflexion? In Tagträume? In Krankengeschichten? Oder in Phasen des stillen Rückzugs, in denen man sich die massiven Bilder dieser Zeiten vergegenwärtigt, um ihnen eine durchdachtere Zukunft abzugewinnen? Solche Fragen könnten auch das religiöse Sprechen berühren, das gerade jetzt die große Chance hätte, sich neu zu artikulieren. Ohne die alten, müde gewordenen Glaubensformeln – mit dem Schwung der Entdeckung eines zweiten, diesseitigen Lebens.