Anekdoten (nach Heinrich von Kleist) 6

In den Jahren 1810/1811 hat Heinrich von Kleist eine fast täglich erscheinende Zeitung, die „Berliner Abendblätter“, herausgegeben. In ihr veröffentlichte er viele seiner Anekdoten, in denen er bereits vorliegende Nachrichten und Fakten mit Abgewandeltem oder Erfundenem mischte.

Manchmal stoße ich in den Kurznachrichten der „Stuttgarter Zeitung“ auf skurrile Meldungen. Ich lese sie als Geschichten und schreibe sie zu Erzählungen um – auf diesem Weg entstehen Anekdoten im Gestus und Ton des großen Heinrich von Kleist.

Hier das sechste Beispiel (die fünf ersten Beispiele dieser Serie findet man im Blog unter dem Suchwort „Anekdoten“):

 Fünfzig Pizzen

Eine neunzehnjährige Österreicherin aus der schönen Ortschaft Steyr litt so sehr unter Liebeskummer, dass sie keinen Tag leben konnte, ohne ihr männliches Liebesobjekt zumindest einmal gesehen zu haben. Da es sich bei dem Ex-Freund um einen Pizza-Ausfahrer handelte, kam sie auf die geniale Idee, täglich anonym eine Pizza an eine Adresse in der Nähe ihrer Wohnung zu bestellen. Der junge Mann, der jeden Tag erhebliche Strecken zurücklegen musste, geriet dadurch bei seinen Auslieferungsversuchen immer wieder an Personen, die keine Pizza bestellt hatten und sich auch keine Pizza aufschwatzen lassen wollten. Da er Auseinandersetzungen mit diesen Nichtkunden aus dem Weg gehen wollte, lieferte er die abgelehnten Pizzen aus Hilflosigkeit schließlich jedes Mal bei seiner in der Nähe wohnenden Ex-Freundin ab, die, von am Ende fünfzig gelieferten Pizzen über Gebühr physisch und psychisch belastet, gestand, die Verursacherin der Pizzaflut gewesen zu sein. Was den jungen Pizza-Ausfahrer derart rührte und bis ins Mark traf, dass er von diesem Geständnis an nie mehr von ihr lassen wollte.

(Nach einer dpa-Meldung in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 22. Juni 2020)