In den Jahren 1810/1811 hat Heinrich von Kleist eine fast täglich erscheinende Zeitung, die „Berliner Abendblätter“, herausgegeben. In ihr veröffentlichte er viele seiner Anekdoten, in denen er bereits vorliegende Nachrichten und Fakten mit Abgewandeltem oder Erfundenem mischte.
Manchmal stoße ich in Kurznachrichten von Zeitungen auf skurrile Meldungen. Ich lese sie als Geschichten und schreibe sie zu Erzählungen um – auf diesem Weg entstehen Anekdoten im Gestus und Ton des großen Heinrich von Kleist. Hier das siebte Beispiel:
Spanisches Intermezzo
Ein spanischer Privatsammler von alten Gemälden gab bei einem Restaurator die Ausbesserung eines Bildes aus dem siebzehnten Jahrhundert in Auftrag, auf dem ein Brustbild Mariens zu sehen war. Der junge Mann vertiefte sich wochenlang in jedes Detail, studierte die schwungvoll geformte Nase, die weichen, geöffneten Lippen sowie den schräg gehaltenen Hals. Am meisten beeindruckten ihn die helle, breite Stirn und die langen in der Mitte gescheitelten, braunen Haare, die sich seitlich auf beide Schultern legten. Je länger er das Marienbild aber betrachtete, umso mehr erschien es ihm wie ein Porträt seiner eigenen Liebschaft, deren Eigenheiten Stück für Stück in seine Restaurierungsversuche eingingen, so dass der Marienkopf sich allmählich in die Abbildung seiner Geliebten verwandelte. Als man das Ergebnis der Bemühungen dem Privatsammler zeigte, erkannte der sein Gemälde nicht mehr wieder und veranlasste sofort einen zweiten Versuch. Der junge Restaurator machte sich auch sofort an die Arbeit, ohne allerdings zu begreifen, was er hätte verändern oder anders machen können. Vielmehr vertiefte er sich erneut so lange in das Gemälde, bis sich das Brustbild seiner Geliebten in deren Kindheitsporträt verwandelt hatte. Von dem entsetzten Sammler erneut zur Rede gestellt, antwortete er, er habe die Jungfrau Maria ihrer Pflichten als Mutter Jesu entledigen und sie zu einem Kind machen wollen, das in Zukunft im Haus eines fürsorglichen Paares eine neue Heimat finden werde. Dieses Paar aber bestehe aus niemand anderem als ihm selbst sowie aus seiner Geliebten, deren Kinderwunsch er ganz nebenbei auf diese Weise befriedigen könne.
(Nach einer dpa-Meldung in der FAZ vom 24. Juni 2020)