Die Stundengebete

Zwei Formen des Gottesdienstes habe ich als katholisches Kind mit auf den Weg bekommen: Die der Meßliturgie und die der Stundengebete, die ich in Abteien und Klöstern erlebte. Mehrmals am Tag versammelten sich die Mönche im Chor einer Kirche und intonierten die alten gregorianischen Gesänge, deren Texte meist aus denen der Psalmen bestanden.

Die Stundengebete wirkten wie Meditationen, eine halbe oder auch ganze Stunde lang. Man saß in den Bänken des Kirchenschiffs und war der stumme Zuhörer, der weder angesprochen noch auf anderen Wegen in das Beten einbezogen war. Der gregorianische Gesang war der einer stillen Gemeinschaft, die für sich blieb, lautlos ein- und auszog und später wieder in den Zellen oder Kammern des Klosters verschwand.

Nach langer, coronabedingter Enthaltsamkeit nahm ich wieder an einem solchen Stundengebet teil. Es war eine Vesper am Nachmittag. Das schon abendlich wirkende Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster, und der Gesang zirkulierte in unendlicher Ruhe im Chor, als habe sich die Welt seit Urzeiten in keiner Nunace verändert.

Manchmal war die singuläre Stimme des Abtes zu hören, andere Einzelstimmen waren nicht deutlich zu fixieren. Der Gesang wirkte wie die kaum variierte Schwingung eines einzigen, konstanten Gebetstons. Die Mönche standen, während sie sangen, manchmal lehnten sie sich mit dem Rücken gegen das Chorgestühl, dann setzten sie sich oder verbeugten sich tief, um sich danach wiederum langsam zu erheben.

So erschienen die fortlaufend veränderten Bewegungen wie unterschiedliche Zeichen von Andacht, deren Komponenten sich den Zuhörern und Zuschauern nicht erschlossen. Sie wirkten wie Teile eines geheimen Ritus, nur für jene Eingeweihte, die Klang und Text in Gestik und Mimik der Körper spiegelten.

Am Eingang der Kirche lag eine Liste aus, in die man sich als Gast und möglicher Mitbeter eintragen sollte. Als müsste aber auch die Anwesenheit der Mönche fixiert werden, machten ihre Namen den Anfang: Abt A, Pater B, Frater C, Bruder D… – so waren sie erkennbar präsent. Ich trug meinen eigenen Namen direkt darunter ein. Als gehörte ich letztlich dazu und würde den Mönchen nach der Vesper in die für Laien unzugänglichen Klosterräume folgen, um mit ihnen zu Abend zu essen.