Charaktere 4 – Der Brombeerpflücker

Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast (am besten liest man sie in der schmalen Ausgabe des Reclam-Verlages, griechisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Dietrich Klose) sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.

Die dreißig kurzen Texte gelten Figuren wie etwa „dem Redseligen“, „dem Bedenkenlosen“, „dem Gerüchtemacher“ oder „dem Spätgebildeten“. Theophrast seziert nicht ihre Psyche, sondern zeigt, wie und woran man sie erkennt. So erzählt er von ihrem Tun und Lassen bis in die Details ihrer Selbstdarstellung. Sein Büchlein wurde dadurch auch zu einem Grundlagenbuch für Epiker und Dramatiker, die erfuhren, wie man einzelne Figuren vorstellt und entwickelt.

Ich folge Theophrast und schreibe selbst eine kleine Erzählung, die sich an seine Manier anlehnt:

Der Brombeerpflücker

Er liebt Früchte. Wenn er spazierengeht, entdeckt er sie überall. Mirabellen, Himbeeren, Johannisbeeren. Brombeeren mag er am liebsten, und so sieht man ihn im Spätsommer an den Straßenrändern und Waldlichtungen dort, wo Brombeersträucher in großen Inseln wuchern.

Er hat eine alte Milchkanne seiner längst gestorbenen Mutter dabei und lässt die gepflückten Beeren in das tiefe Verlies gleiten, dessen Anblick eine Geruchsassoziation auslöst. Es riecht nach dem Mutterparfüm, einem herbschweren Duft, dessen Namen er noch immer nicht kennt. Die tiefschwarzen Beeren verschwinden im Dunkel und verdichten sich allmählich zu einem Bau aus mehreren dicht aufeinandersitzenden Lagen, die er später mit einem Emaildeckel verschließt.

Er pflückt immer soviel, bis der Topf gefüllt ist. Dann ummäntelt er ihn mit einem langen Kniestrumpf und befestigt ihn auf dem Rücksitz seines Fahrrads. Er steigt nicht auf, sondern schiebt das Rad neben sich her, den wie eine Monstranz aufgebahrten Schatz im Auge. Die Passanten schauen ihm nach, denn zusammen mit seinem Rad und der umwickelten Kanne hat sein Auftritt etwas von einer Prozession.

Was ist drin in dem Heiligtum, das er neben sich herschiebt? fragen sich viele und beginnen zu flüstern: Ein Tier? Eine Kostbarkeit? Oder gar Munition? Wenn er gegrüßt wird, nickt er kurz, antwortet aber nicht. Er geht langsam, Schritt für Schritt, vorsichtig, als wäre er auf der Hut. Ist ein Ast im Weg, streicht er ihn mit der Hand zur Seite wie einen Vorhang, der sich nach der Öffnung rasch wieder hinter ihm schließt. Beginnt es zu regnen, geht er ungerührt weiter und duldet regungslos, dass die Tropfen seinen Kopf einnässen.

Zu Hause schiebt er das Fahrrad in den Hinterhof, schließt es ab, greift nach der Kanne und trägt sie in seine Küche. Er befreit sie von ihrem Mantel, öffnet sie und lässt den ausströmenden Duft überall eindringen: in seine Kleidung, die Küche und den Flur, wo sich die Duftsphären in der Ablage festsetzen, genau dort, wo er seit dem Tod der Mutter noch ein letztes ihrer Kleider aufbewahrt. Es ist lang und schwarz und hängt auf einem hellen, geschwungenen Bügel. Eine Kette mit Granatschmuck funkelt wie ein Reif auf dem Oberteil.

Einen Teil der Brombeeren isst er gleich am Abend. Den Rest kocht er ein und verzehrt ihn im Winter, morgens zum Frühstück, begleitet von duftenden Zimthörnchen, von denen er jeden Morgen welche vom nahen Bäcker holt. Er trennt sie durch und legt sie nebeneinander zu einer Parade auf ein Holzbrett. Dann bestreicht er die Hälften langsam mit der Brombeermarmelade und trinkt während des Frühstücks dazu einen besonders starken Kaffee.

Bis zum Mittag nährt ihn das, und erst, wenn er sich auf eine andere Mahlzeit einlässt, stirbt langsam der intensive Geschmack, der sein Leben grundiert und trägt.