(Am 3./4. Oktober 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Anna und Herbert sind nun doch in den italienischen Süden gereist, wohin sie eigentlich schon im Frühjahr reisen wollten. Erst jetzt haben sie es gewagt, da die Zahlen der Neuinfizierten relativ niedrig sind und sogar noch unter den Zahlen in Deutschland liegen. Zuletzt war das Freundespaar mindestens einmal im Jahr in Italien und glaubte eine Idee davon zu haben, wie man dort auf Corona reagiert. Nun aber lernen sie das Land und seine Menschen neu kennen, und viele alte Vorstellungen erweisen sich als überholt.
Denn anders als gedacht, begegnet man in den italienischen Geschäften und Läden keinen Nichtmaskierten. Verkäufer wie Kunden gehen mit den Masken so selbstverständlich um, als bräuchte man darüber keine Worte mehr zu verlieren. Auf den Straßen und an den Stränden sieht man viel seltener als früher größere Menschengruppen. Stattdessen bewegen sich die Spaziergänger zu zweit oder mit der Familie, aber auch solo. Ganz allein können jedoch viele nicht sein, und so hat das Smartphone eine noch größere Bedeutung als früher. Frauen wie Männer tragen es wie eine kleine Monstranz vor sich her, schauen auf das Videobild, mit dem sie sich unterhalten, und haben nicht die geringste Scheu, das auch temperamentvoll und laut zu tun.
Anna und Herbert haben eine solche Lautstärke auf den Straßen noch nie erlebt. Manchmal hat sie die Wucht eines dramatischen Monologs, und fast jeder hört sich so an, als ginge es um hochexistentielle Fragen. Die Themen sind aber eher alltäglich und schlicht, nur dass sie jetzt ausgereizt und bis an bestimmte Grenzen getrieben werden. Eine Spur von Wut und Isolation lauert hinter diesen Wortkaskaden, und nur die Schulklassen traben ruhig und fast ergeben durchs Freie, weil die Lehrer jede Sonnenstunde nutzen, um Unterrichtsstunden in Klassenzimmern zu vermeiden. Im Freien finden sich auch viele Gläubige ein und erleben dort auf den Plätzen rund um die Kirchen Gottesdienste, die lautstark aus dem fast leeren Inneren nach draußen übertragen werden.
Der vorgeschriebene Mindestabstand beträgt nicht wie in Deutschland 1,5 Meter, sondern nur einen Meter – was letztlich dazu führt, dass es keinen gibt. In öffentlichen Gebäuden und den Einkaufszonen achtet man noch darauf, nicht aber in den Restaurants, wo Grenzen und Separierungen von Tisch zu Tisch einfach unmöglich erscheinen. Anfänglich winkt man sich noch zu, dann aber springen die vertrauten Funken rasch wieder über, und die Tischbesatzungen wechseln und mischen sich.
Die mit monatelanger Verspätung begonnene Sommersaison an den Stränden ist nun zu Ende. Plexisglasscheiben zwischen den Strandliegen hat es zum Glück nicht gegeben, stattdessen hat man einfach jeden Quadratmeter genutzt und mehr Liegen als früher streng in Reih und Glied mit kaum merklichen Abständen aufgestellt. Erstaunlich viele Herbstfestivals mit Lesungen, Theater, Film und Musik werden bald im ganzen Land stattfinden, die Filmfestspiele in Venedig haben Mut gemacht, und der morgige Start des Giro d’Italia in Sizilien wird noch mehr Mut machen.
Auch die Medien bemühen sich um die gute Laune von früher. Anna schickte mir Fotografien von den vielen Seiten, auf denen in den Zeitungen die neuste Mode für Frauen und Männer in aufwendigen Fotografien und Skizzen vorgestellt wird. Strahlendes Weiß ist die Farbe der Saison, notierte ich mir, Weiß und lange Hosen aus Naturstoffen – bis ich bemerkte, dass es längst nicht mehr um den modischen Herbst geht. In Italien entwirft man vielmehr die Trends des kommenden Frühjahrs, und wenn man der Sehnsucht wieder Raum lässt, könnte man sich eine Zeit des Aufblühens vorstellen: grelle Monochromien mit winzigen Blütenmotiven.