Klaus Siblewski wird siebzig

(Dieser Glückwunsch für Klaus Siblewski erscheint heute auch auf www.boersenblatt.net.)

Es ist neun Uhr, in wenigen Minuten wird mich mein Lektor Klaus Siblewski anrufen. Alle paar Tage telefonieren wir kurz nach neun miteinander. Nicht nur über den Fortgang meiner literarischen Arbeiten, sondern auch über Neuerscheinungen, die Frankfurter Eintracht, Bergtouren in Bayern oder gerade erschienene Jazz-CDs. Bevor wir in den Tag starten, befreien wir uns von einigen Aufdringlichkeiten und kreisen über den kulturellen Feldern.

Mit niemandem kann ich das so gut wie mit Klaus. Er ist nicht nur der ideale, verschwiegene Zuhörer, sondern auch ein brillanter Returner, der auf bestimmte Stichworte mit mindestens einer noch nie gehörten Geschichte antwortet. Oft hat sie eine humoristische Komponente, denn Klaus Siblewski hat mit vielen Autorinnen und Autoren zusammengearbeitet, die sich auch darauf verstehen: Günter Grass, Ernst Jandl, Franz Hohler, Peter Bichsel, Terézia Mora, um nur einige zu nennen.

Über sich selbst erzählt er in diesem Ton dagegen nur zurückhaltend, obwohl er genau weiß, dass mindestens ein großer humoristischer Roman in ihm schlummert. Es ist der Roman über einen Mann, der seit vierzig Jahren für einen einzigen Verlag als Lektor gearbeitet und alles miterlebt hat, was so ein Lektorenleben an Skurrilem bietet. Ein Roman über ein Urgestein in der deutschen Lektorenriege, das mit den Jahrzehnten selbst zu einer großen literarischen Figur geworden ist.

Klaus ist Frankfurter, das aber nicht nur. Sein Vater kam aus Danzig, seine Mutter aus München, beide begegneten sich nach dem Krieg halbwegs in der Mitte, wo sie mit dem 1950 geborenen Sohn ein Frankfurt-Leben führten, ohne sich jemals wieder nach Danzig oder München auf den Weg zu machen. All diese Welten spielen jedoch weiter in Siblewkis Leben hinein, und wenn es ihn packt, fährt er an die Ostsee, schwimmt dort bei 13 Grad in den Fluten und schafft danach die Elternkehre nach München, in dessen Nähe er auf dem Land lebt und die Berge besteigt.

Im Luchterhand-Verlag hat 1980 alles angefangen, und Klaus erzählt manchmal von seiner ersten Lektorenbegegnung mit einer Autorin. Da saß er bei Gabriele Wohmann in deren Wohnung auf dem Sofa, trank Tee und harrte der Dinge, die da kommen mochten: Was erwartete man von ihm? Wie genau konnte er helfen? Ging es um kleinere Korrekturvorschläge oder um eine eingreifende Mitarbeit an einem in Entstehung befindlichen Text? Und welche Rolle spielte bei alledem Herr Wohmann, der den Tee servierte?

Klaus hatte in Frankfurt Germanistik studiert, sich aber auch in den anderen akademischen Milieus dieser Stadt umgetan. In der Philosophie (nach Adorno), in der Soziologie (nach Habermas), aber auch in der Musikhochschule, wo er Freunde unter den jüngeren Pianisten hatte. Die stärksten Anregungen erhielt er aus den Veranstaltungen und Seminaren des Sigmund-Freud-Instituts. Wenige wissen es, ich aber weiß es genau: Klaus Siblewski ist ein so erfolgreicher und brillanter Lektor geworden, weil er sich jederzeit in Sigmund Freud verwandeln kann. Dann hört er einem ruhig zu, stellt Fragen, urteilt nie und wertet nicht. Er verwandelt das Gespräch über einen Text vielmehr in das Gleiten eines schmalen Bootes auf einem Fluss, der sich seinen Weg durch eine Ebene bahnt. An einer Stromschnelle wird ein Hindernis beseitigt, kleinere Äste werden aufgelesen und beiseite geräumt, und wenn die Fahrt zu langsam wird, verwandelt er sich in einen behutsamen Steuermann und reicht einem ein zweites Ruder.

Wer so mitdenkt, spricht und mitspielt, wird ein Teil des Textes, der entstehen soll. Der fremde Text lebt in ihm und fordert ihn insgeheim auf, das Fremde zu überschreiben. Wie aber wäre das möglich? Indem man sich korrigierend und gestaltend in ihn einschreibt, aber auch, indem man sich aus ihm herausschreibt – in einem eigenen Text. Genau an dieser Stelle lauert die Hürde, mit der sich Klaus Siblewski ein Leben lang beschäftigt und die er umkreist hat wie kein anderer. Sie besteht aus Antworten auf die Frage, wie und was Lektoren eigentlich schreiben. Einen Kontext? Paratexte? Oder lautlos bleibende und versickernde Paraphrasen zu dem, was die Autorinnen und Autoren ihnen anbieten?

Um das auf vielerlei Wegen zu erforschen, konnte Klaus Siblewski nicht nur Lektor bleiben. Er musste Wege und Institutionen finden, die es erlaubten, etwas so wenig Erforschtes wie die Methoden und Techniken des Lektorierens zum Thema zu machen. Nach seiner Promotion hat er Bücher dazu geschrieben und sich später sogar habilitiert. Seit vielen Jahren lehrt er das Lektorieren als Gastprofessor am „Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft“ der Universität Hildesheim und betreut junge Studentinnen und Studenten, die an ihrem Debüt arbeiten. Dort hat er auch die „Deutsche Lektorenkonferenz“ ins Leben gerufen, ein jährliches Treffen von Lektorinnen und Lektoren bekannter Verlage, das er zehn Jahre geleitet hat.

Wohin sollte das führen? Dahin, die traditionell schweigsame Zunft zum Sprechen über ihr Arbeiten zu bringen und darüber nachzudenken, was Lektoren eigentlich tun, wenn sie lektorieren. Das Spektrum dieser Tätigkeiten hat er selbst in seinem Buch „Die diskreten Kritiker“ in Form einer biografischen Bestandsaufnahme fixiert und in anderen Formaten die nächsten Schritte getan. So als Herausgeber von Einzel- und Gesamtwerken seiner Autoren, so als passionierter Biograf (etwa von Ernst Jandl), aber auch als Literaturkritiker („Der Gelegenheitskritiker“) und als Autor eines hinreissend komischen Zwei-Personen-Stücks, indem er sich (konsequent den Lektorenimpuls aufgreifend) in Ernst Jandl versetzte und einen Lektor im Gespräch mit einem seiner Lieblingsautoren inszenierte („Telefongespräche mit Ernst Jandl“).

Daneben hat er Grundlagenforschung betrieben. In drei Büchern („Wie Gedichte entstehen“, „Wie Dramen entstehen“ und „Wie Romane entstehen“) hat er zusammen mit den Schriftstellern Norbert Hummelt, John von Düffel und mir selbst die einzelnen Schritte von Entstehungsprozessen literarischer Werke minuziös aus Autoren- und Lektorenperspektive erläutert. Sie gehören, viel gelesen und besprochen, inzwischen zu den Standardwerken der Forschungen über die ästhetischen Anforderungen des Lektorenberufs.

Heute wird Klaus Siblewski siebzig. Ich bin sicher, er wird einmal mindestens hundert, klug, gescheit, vital und humorvoll, wie er geblieben ist. Irgendwann wird er mir während unserer Telefonate vorsichtig andeuten, dass er an einem biografischen Roman schreibt. „Biografisch“ wird er sagen und nicht „autobiografisch“, um mir nicht in die Quere zu kommen. Ich werde hellwach hinhören und ein paar Fragen stellen. Und dann werde ich, so Gott will, mit meinen wenigen Kräften versuchen, den großen Roman von Klaus Siblewski beratend zu begleiten. Wird mir das gelingen? Ich habe meine Zweifel.

Bis es soweit ist, sage ich vorerst: Mein lieber, guter Freund, ich danke Dir von Herzen für über zwanzig wunderbare Jahre gemeinsamen Tuns, Nachdenkens und Sprechens! Lass uns bitte nicht damit aufhören! Und lass uns schon heute weiterreden: über die Gedichte von Louise Glück, über die neue CD von Michael Wollny und über das nächste Auswärtsspiel der Frankfurter Eintracht (am Samstag, ausgerechnet beim FC in meiner Heimatstadt Köln…).