Bin ich etwa (auch) ein japanischer Schriftsteller?

In früheren Zeiten haben viele Dichter und Schriftsteller sich an fernen Kulturen orientiert, die sie oft weder gesehen noch (in heutigem Sinn) tiefer erforscht hatten. Johann Joachim Winckelmanns Griechenland ist ein gutes Beispiel. Seine epochemachenden Worte von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ griechischer Kultur hatte er vor allem nach dem Studium von Kopien griechischer Plastiken in Rom erfunden, sie waren die ästhetische Grundformel für den Klassizismus und die Griechenlandbegeisterung, die deutsche Dichter, Philosophen und Forscher in den folgenden Jahrhunderten weiter entwickelten (ich denke an Goethe, Hölderlin, Nietzsche und viele andere).

Neben Griechenland waren es vor allem Italien und Frankreich, um die solche kulturellen Fernfantasien kreisten. Da diese beiden Länder von Deutschland aus nicht so schwer zu erreichen waren, galten ihnen zumindest längere Exkursionen, die das freie Fantasieren dann mehr oder minder fundiert erweiterten.

Schon seit einiger Zeit habe ich die seltsame Vermutung, dass ich selbst eine starke Ferneuphorie für das empfinde, was ich unter der alten japanischen Kultur zu verstehen glaube. Ich war nie in Japan, und ich kenne diese Kultur auch nicht aus längeren Abhandlungen. Es sind eher einige wenige Texte, die mich sehr faszinieren und beschäftigen: So etwa Matsuo Bashōs Reisetagebuch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland oder – noch stärker – Sei Shōnagons Kopfkissenbuch. Daneben habe ich nach der Lektüre des Japanbuches von Roland Barthes (Das Reich der Zeichen) die Vorstellung entwickelt, an seiner Seite in Japan gewesen zu sein.

Dass ich mit meinen inneren Bildern und Fantasien, vor allem aber auch mit bestimmten Formen meines Sehens, Denkens und Handelns in einem imaginären Japan lebe, wird mir im kommenden Jahr auch der Japanische Taschenkalender für das Jahr 2021 bestätigen. Er wird mich animieren, die Jahreszeiten mit den Augen der japanischen Haikumeister im Umkreis von Matsuo Bashō zu sehen. Woche für Woche werde ich ein auf die jeweiligen Jahreszeiten bezogenes Haiku lesen, dessen tieferer, für uns Europäer unzugänglicher Sinn sich vor allem dadurch erschließt, dass der Japanologe Ekkehard May es eingehend und verblüffend erläutert. Hinzu kommen schließlich noch Zeichnungen aus der Japan-Sammlung des Metropolitan Museums in New York, die den Text verlebendigen.

Eingefügt in diese Text-Bild-Natur-Rhythmen sind außerdem auch leere Seiten, die sich zum eigenen Notieren eignen. Das habe ich mir immer gewünscht: Ein altjapanisches Wander- und Dichterleben zu führen und es (handschriftlich) im Verlauf eines ganzen Jahres zu dokumentieren. Schon in etwa zwei Monaten geht es los, der Kalender liegt bereits auf meinem Arbeitstisch…