Wie lebt es sich in Quarantäne?

(Gestern auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Giulio (25 Jahre) ist der Sohn von Bella und Enzo, mit denen ich seit vielen Jahren befreundet bin. Sie besitzen ein italienisches Restaurant in Köln, Giulio soll es einmal übernehmen und war deshalb zur Ausbildung einige Monate in Italien. Dass auch dieses Land zum Risikogebiet erklärt würde, hat er nicht erwartet, die Nachricht ereilte ihn dort. Jetzt ist er wieder zu Hause und muss in Quarantäne.

Wie aber geht das? Und was gibt es zu beachten? Da die ganze Familie nicht richtig Bescheid wusste, hat man sich bei der „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ informiert. Die Quarantäne, hieß es, sei eine „zeitlich befristete Absonderung“. Um jede mögliche Gefährdung anderer auszuschließen, hat sich Giulio in Isolierung begeben. Das bedeutet ein Leben im Einzelzimmer, keine gemeinsamen Mahlzeiten, keine gemeinsame Verwendung von Haushaltsgegenständen, regelmäßiges Säubern von Oberflächen mit Desinfektionsmitteln, häufiges Lüften aller Räume und Tragen von Mund-Nasenschutz, wenn Begegnungen mit den Eltern unvermeidlich sind. Kontakte zu anderen Personen sind ausgeschlossen.

Was aber macht man in Quarantäne? Giulio möchte nicht skypen und sich mit Freunden unterhalten. Sieht er, wie sie sich frei bewegen, tut ihm das gar nicht gut, sondern stimmt traurig. Filme sehen hat dieselbe Wirkung. Actionfilme gehen gar nicht, und Liebesfilme sind ein Gräuel. Er ist allein, Action und Zweisamkeit sind nicht möglich, und dass ihm Filme jetzt etwas vorgaukeln, wäre das Letzte. „Hast Du was zu lesen, das passt?“ fragte er mich.

Ich habe ihm den Debütroman Hikikomori von Kevin Kuhn empfohlen. Er erzählt von einem Jungen, der sich mit einem Computer in seinem Zimmer einschließt und dort eine eigene Welt kreiert. Der Titel ist japanisch und meint ein Verhalten von Personen, die sich von der Umwelt absondern und so wenig Kontakte wie möglich aufnehmen. In Japan sollen über eine Million Menschen so leben und zwar keineswegs nur jüngere, sondern vor allem ältere ab vierzig Jahren.

Ein Onkel hat Giulio dagegen ein Buch über das Leben des heiligen Antonius geschenkt. Von dem hatte er bisher nur wenig gehört. Stark beeindruckt hat ihn die extreme Einsamkeit, auf die Antonius sich eingelassen hatte. Mönchtum, Wüste, Leere, keine anderen Menschen – wie hält man das aus?

Nach diesen Lektüren betrachtet Giulio die Isolierung als eine Art Experiment und macht sich über alles Gedanken. Tagsüber schlafen? Nachtaktiv leben? Konsequente Askese mit entsprechend frugaler Ernährung? Gymnastik oder ein anderes Training? Klavierspielen? Tagebuch führen? Zuletzt schickte er mir eine Mail: „Ich könnte mich nach fünf Tagen testen lassen und käme bei negativem Ergebnis frei. Ich denke aber nicht dran, sondern bleibe mindestens vierzehn Tage in Quarantäne.“

Ich habe Giulio eine Postkarte mit dem Bild der Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch geschickt. Damit er ahnt und darauf vorbereitet ist, was ihn erwartet.