Digitale Lesungen

(Der Journalist Justus Mohle hat mich zu meinen digitalen Lesungen befragt…)

Herr Ortheil, Sie haben zuletzt zwei digitale Lesungen absolviert. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Unterschiedlich. Die erste Lesung war ein Livestream aus meiner Wohnung, die zweite eine Video-Aufzeichnung in einer großen Halle. Der Livestream ähnelte einem Video-Telefonat, denn ich sah meistens meinen Lektor Klaus Siblewski auf dem Bildschirm meines Laptops. Das war wie eine Unterhaltung von zwei Personen, die sich gut kennen: einer liest dem anderen was vor, und der andere stellt ein paar Fragen. Dass Tausende von Leserinnen und Lesern zuschauten, hatte ich nicht im Blick und wusste ich damals auch nicht. Sonst hätte ich vielleicht nicht barfuss gelesen…

Barfuss? Sie saßen barfuss in Ihrer Wohnung?

Ja, wenn ich arbeite, sitze ich fast immer barfuss an einem Arbeitstisch. Sommer wie Winter. Barfuss entspannt und vermittelt Lockerheit, außerdem mag ich weder Strümpfe noch Hausschuhe.

Und wie erlebten Sie die Videoaufzeichnung in der großen Halle?

Die Halle war das Kulturwerk von Wissen an der Sieg. Die gehörte früher mal Thyssen, es war eine  Fabrikhalle – heute passen da mindestens tausend Menschen rein. Ich saß allein an einem Tisch, und vor mir waren die Kameras aufgebaut. In der Weite der Halle verlor sich ein einzelner Techniker, der Bild und Ton steuerte. Es war, als säße ich in einer dunklen Höhle, von irgendwoher drang ein wenig Licht herein, und draußen vor dem Eingang verlief das Leben.

Waren Sie nervös?

Nein, das nicht, ich bin während meiner Lesungen eigentlich nie nervös – ich war eher irritiert: Wo bin ich? Was mache ich da gerade? Und hört mir überhaupt jemand zu?

Sie haben den Kontakt mit dem Publikum vermisst?

Sehr. Es gab ja nicht die geringsten Reaktionen, während ich las. Meine Texte tropften in diese riesengroße Halle, wie ein Rinnsal, das ins Nichts verlief. Am liebsten hätte ich mal geschrien oder laut gesungen oder getrommelt…

Und wie war es hinterher?

Nach der Lesung habe ich meine Bücher und Notizen in den Rucksack gepackt, habe dem Techniker gedankt und bin nach draußen gegangen. Was mache ich jetzt? habe ich mich gefragt – Du kannst doch nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.

Warum nicht?

Nach einer Lesung bin ich, wie soll ich sagen…?: in gehobener Stimmung, angeregt, gut gelaunt, beinahe in Festtagslaune. Und wenn die nicht aufgefangen wird, ist es traurig. Man fällt in sich zusammen, es ist trostlos. Ich hätte in ein Restaurant gehen können, um etwas Gutes zu essen und zu trinken – das war aber nicht möglich, denn die Restaurants waren geschlossen. Ich stand also draußen im Freien und dachte: Wo ist der Hubschrauber, der mich in ein Land bringt, in dem die Restaurants geöffnet sind?

Werden Sie weitere digitale Lesungen durchführen?

Ja, denn es sind ja durchaus interessante Experimente. Am 20. Januar 2021 übertragt das Literaturhaus Stuttgart meine nächste Lesung. Wieder aus In meinen Gärten und Wäldern, aber mit einem neuen Ablauf, anderen Texten, anderer Musik, anderen Bildern. Die digitalen Präsentationen bilden ein multimediales Ensemble, weil ich neben den Texten auch Fotos zeigen und Musik kommentieren kann. Das ist eine erhebliche Erweiterung gegenüber der üblichen Lesung. Das probiere ich jetzt aus – und werde es fortsetzen, wenn endlich auch wieder leibhaftiges Publikum da ist. Im Grunde träume ich von einer großen Show (lachend) – mit Bildern, Musik, Text – und hinterher Tanz, die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgengrauen. Das wär’s doch…