Mein Beethoven 2

(In dieser Woche läuft die fünfteilige Folge Mein Beethoven in SWR 2, jeweils morgens von 9-10 Uhr. Hier noch einmal ein Link für alle Folgen:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Susanne Benda, Musikredakteurin der „Stuttgarter Zeitung“, hat zu dieser Reihe ein Interview mit mir geführt. Es ist am Wochenende erschienen.)

Herr Ortheil, Mein Beethoven heißt Ihre Musikstunden-Woche auf SWR2. Der Titel setzt einen Prozess der Aneignung voraus – wann und wie hat sich diese ereignet?

Ich beschäftige mich nicht nur analytisch mit historischen Personen, sondern denke auch gern darüber nach, welche Rolle sie ganz konkret in meinem Leben gespielt haben: Wie habe ich Beethoven kennengelernt, wie hat er mein Leben beeinflusst? So entsteht eine autobiografische Erzählung: Beethoven als großes Erlebnis, das mein ganzes Leben seit der Kindheit begleitet hat.

Haben sich Ihr Verständnis für und Ihr Bild von Beethoven dabei geändert?

Als Kind hatte ich oft eine Sperre, mich Beethoven zu nähern. Das lag auch an dem Beethoven-Bild der 50er und 60er Jahre, also daran, dass man Beethoven damals als eine unheimliche und ferne Gestalt empfand. Es stellten sich bei mir daher keine inneren Verbindungen her, die bei anderen Komponisten viel eher möglich waren, etwa bei Mozart, Haydn oder Schumann. Beethoven war für mich damals wie ein Kontinent, den man nur mit Ausweis betreten durfte, immer mit Blick auf den Warnhinweis „Vorsicht, gefährliches Gelände!“

Also haben Sie in Ihrer pianistischen Ausbildung Beethovens Werke nicht gespielt?

Tatsächlich ergab sich aus der Unterstellung, ich sei dieser Musik zwar spieltechnisch, aber nicht psychisch gewachsen, für mich so etwas wie ein Spielverbot. Beethovens Stücke setzen sich aus winzigen Segmenten zusammen, die unterschiedlichen Impulsen folgen, und einen jungen Klavierspieler überfordert das oft übergangslose ständige Umschalten von einer Stimmung in die andere. Deshalb kann man sich im großen Drama des Spiels verlieren. Man braucht eine  gegensteuernde Ruhe, um seine Kompositionen wirklich leuchten zu lassen.

Gibt es einen Pianisten, dessen Beethoven-Interpretationen Sie besonders schätzen?

Ich war eine Zeit lang Schüler von Claudio Arrau, einem der ganz großen Beethoven-Interpreten. Er führte uns seine Musik mit einer geradezu bohèmehaften Leichtigkeit vor. Ihm gelang es, mit starker Gelassenheit auch schwierige Stücke zu durchdringen. Davon war ich hingerissen. Das hatte natürlich auch mit seinem Alter zu tun. Er hat seine Schüler immer aufgefordert, mit den Bagatellen zu beginnen, mit den Rondi und den wunderbaren Variationen, von denen Beethoven als großer Improvisationskünstler ja sehr viele geschrieben hat.

Wie beurteilen Sie Beethoven-Einspielungen jüngerer Pianisten: Igor Levit, Fazil Say .

Neben Arrau habe ich Bruno Leonardo Gelber immer als Beethoven-Interpreten sehr geschätzt. Und Grigory Sokolov. Ich bleibe dabei: Die Sonaten sind etwas für reifere Musiker.

Welches ist Ihr Lieblingsstück von Beethoven?

Die Waldsteinsonate. Bis heute rührt mich der verblüffende Übergang von zweiten zum dritten Satz tief an: erst das Zusammensinken, dann diese herrliche Melodie . . . Da bin ich immer wieder fassungslos.

Welche Sonate haben Sie als erste öffentlich aufgeführt?

Oh, das war eine völlige Überforderung. Ich war 17 und habe die As-Dur-Sonate op. 110 gespielt, weil ich damals meinte, unbedingt die drei letzten Beethoven-Sonaten studieren zu müssen.

War die Überforderung vor allem spieltechnischer Art?

Nein, viel schlimmer war die mentale. Wenn man die ganze Zeit hochkonzentriert und hellwach ist und muss dann diese späte Fuge spielen, die in einer Wahnsinns-Apotheose nach As-Dur zurückführt – das ist unglaublich. Hinterher saß ich in einem kleinen Garderobenzimmer und spürte, wie die Chemie des Hirns das plötzliche Umschalten zurück in den Alltag nicht ertrug. Diesen brutalen Abfall in die Leere habe ich nie vergessen…

Welche von Beethovens Werken werden zu Unrecht vernachlässigt?

Die Werke ohne Opuszahl – da liegt ein immenser Reichtum. Bei Beethoven hat sich ein Kanon großer Werke etabliert, die immer wieder aufgeführt werden, und es wird oft nicht wahrgenommen, dass auch diese Stücke nur Teile eines gigantischen Experimentierprozesses sind. Beethovens Werk ist ein riesiges Labor. Außerdem sind die einzelnen Werke stark mit Beethovens Biografie verbunden. Beethoven hat auf bestimmte Erlebnisse reagiert, sogar in der Wahl der Gattungen, deren Grenzen dann aber meist gesprengt werden, sodass nur noch Steinbrüche der Genres übrigbleiben.

Viele Klavierwerke werden heute kaum mehr gespielt. Und einen Großteil der Lieder kennt heute ebenfalls niemand mehr.

Ja, und oft stammen sie von unbekannten Textdichtern. Sie haben aber den unverwechselbaren Sprachgestus, den man aus Beethovens Briefen und Konversationsheften kennt. Diesen hohen, ekstatischen Ton. Beethoven hat oft Texte mit ähnlichem Unbedingtheitsvokabular ausgewählt, Gedichte, die meist um abstrakte Begriffe kreisen wie Welt, Gott, Freundschaft oder Liebe. Mit Alltagsvokabular konnte er nichts anfangen, eine Vertonung von Das Veilchen kann man sich bei ihm nicht vorstellen.

Warum haben Sie noch nicht das Buch „Mein Beethoven“ geschrieben?

Ich habe in meinem Leben ungeheuer viel zu Beethoven notiert, denn dieser Komponist war für mich die größte Herausforderung. Ich hatte aber auch eine große Scheu, darüber zu schreiben, weil ich keine Musikanalysen liefern, sondern meine Beethoven-Geschichte erzählen wollte. Die Musikstunde jetzt war ja eine Einladung durch den SWR, die ich gerne angenommen habe, weil die Zeit nun reif dafür ist. Ich werde das bestimmt bald zu einem Buch erweitern. Das hatte ich immer vor. Deshalb habe ich in meinem Roman Wie ich Klavierspielen lernte die Beethoven-Aspekte trotz ihrer Bedeutung für mich ausgespart, denn das ist eine ganz eigene Geschichte. Sie wächst und lebt jetzt in mir.

Fühlen Sie sich eigentlich eher als Schriftsteller oder eher als Musiker, der schreibt, statt öffentlich aufzutreten?

Beide Bereiche gehören für mich sehr eng zusammen. Wenn ich schreibe, höre ich den Klang meiner Sätze, erlebe ihre Rhythmen, achte auf die Tempi. Dieses Schreiben ist wie Komponieren – und wenn ich daraus in Lesungen vortrage, mache ich Musik. Das haben zum Glück schon sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer so empfunden…