Rückblick und Ausblick – das alte und das neue Jahr

(Am 6. Januar 2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Meine Freunde haben Silvester in großer Stille erlebt, wie schon Weihnachten und die Tage zwischen den Jahren. Die alten Erlebniswelten sind zerbrochen, und es wird einige Zeit brauchen, bis die Reste wieder notdürftig zusammengeflickt sind. Wir haben kurz telefoniert, aber es gab nur wenig zu sagen. Früher verabredeten wir uns locker miteinander, zu einigen Kölsch, einem Essen, einem Zusammensein in kleinen Runden. Jetzt werden wir bei Telefonaten verlegen, denn niemand von uns telefoniert noch gern und wir sind es leid, die Coronathemen weiter zu wälzen.

Die Pandemie hat unser Leben im letzten Jahr wie nichts anderes geprägt und uns zu immer neuen Reaktionen gezwungen. Mit dem Blick auf unerwartete und laufend gesteigerte  Anforderungen haben wir uns verhalten und ausrichten müssen. Ein ganzes Jahr unter hochgradig zugespitzten, täglichen Informationsströmen. Sie betrafen unsere Existenzen bis in jedes alltägliche Detail, faktisch und vor allem auch psychisch.

Solche extremen Nachrichtenlagen, in denen jede Nachricht einschneidende, konkrete Wirkungen auf den Einzelnen hat, gab es in unserem Nachkriegsdasein bisher noch nicht. Wir erlebten, dass wir nicht mehr frei waren, zu tun und zu lassen, was wir wollten. Der Gedanke, jedes einzelne Leben sei durch seine Aktionsradien mit verantwortlich für das Weiterleben der Anderen, gewann eine noch nie dagewesene Priorität.

So gesehen waren die Einzelnen in der Pflicht, sich an dem auszurichten, was möglich und zum Wohle aller erlaubt war. Das Jahr 2020 hat uns daher zu Alltagskantianern gemacht, die den kategorischen Imperativ des Philosophen verinnerlichten: Handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.

Dass wir in großer Zahl zu einem solchen Umdenken und In-die-Pflicht-Genommenwerden bereit waren, ist erstaunlich. Manchmal erschien es uns sogar so, als erhielten die uralten christlich-aktiven Impulse der Sorge für den anderen einen aktuellen, neuen Sinn. Oder als wären die emphatischen Hymnen des deutschen Idealismus auf den Glauben an die Menschheit nicht blasse Schemen von vorgestern, sondern lebenserhaltende Gesänge, die auf unseren Balkonen eine schöne Wiedergeburt erlebten.

Wir planten 2020 als Beethoven-Jahr mit Tausenden von Konzerten in aller Welt, aber ganz anders als wir gedacht hatten, war der große Weltenträumer des „Alle Menschen werden Brüder“ uns auch ohne solche Konzerte so nahe wie noch nie. In seinem radikalen Leiden wie auch in seiner Fähigkeit, Freude aus den sonst meist übersehenen irdischen Dingen und der tröstenden Natur zu schöpfen.

Beethovens 250. Geburtstag feierten wir in bescheidenem Rahmen am Ende des Jahres. Seltsamerweise war es so, als erhielten seine utopischen Entwürfe eines trotz aller Widrigkeiten gelingenden Lebens wie durch Zauberhand frische Impulse der Hoffnung.

Zuletzt erschienen uns die Ankunft der Impfdosen und die häufig gesehenen Bilder der ersten Impfungen wie symbolische Handlungen: Die nackte Haut wurde hingehalten, um dem Virus eine letzte, ihn hoffentlich vernichtende Gegenwehr anzubieten. Solche Bilder der geimpften älteren Menschen wurden von befreit wirkendem Winken und erleichterten Rufen begleitet. Als nähmen uns die Älteren freundlich an der Hand, um Geduld bittend und darum, die Hoffnung auf das wieder bessere Leben nie aufzugeben.

Meine Freunde sind still geworden im letzten Jahr. Doch die Erfahrungen dieser einzigartigen Krisen haben uns mehr denn je zusammengeführt. Bald werden wir wieder sitzen und plaudern, und wir werden einander erstaunt anschauen und zuhören: ungläubig und etwas unsicher darüber, was aus uns so alles geworden ist.