Nachtgedanken

Tage- und Notizbücher gehören zu meinen favorisierten Lektüren. Weil sie den Lebensprozess strukturierend begleiten, kommentieren und von Details der Lebensführung handeln. So gesehen, sind sie Teile einer autobiografischen Literatur, die oft ein Fundament bietet für das weiterführende Berichten oder Erzählen.

Der bosnische Schriftsteller und Nobelpreisträger Ivo Andrić (1882-1975) ist ein Sonderfall. Er hat in seinen Romanen und Erzählungen nicht gerne sein eigenes Leben thematisiert. Vielmehr hat er eher im Geheimen Erlebnismomente und Überlegungen in einem während schlafloser Nächte geführten Notizbuch festgehalten.

Sie lassen sich wie ein Protokoll all dessen lesen, was tagsüber verborgen bleibt und zurückgehalten wird, aber dennoch Bahnen in das dunkle Unterbewusstsein gräbt.

Nachts beleben sich diese Motive und verlangen nach Erwiderungen und Antworten…, um die sich der große Erzähler Andrić auf ebenso ehrliche wie brillante Weise bemüht. Ein Buch der Nachtgedanken, das eigene Nachtgedanken begleiten und strukturieren könnte.

Ivo Andrić: Insomnia. Nachtgedanken. Hrsg., aus dem Serbischen übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Martens. Paul Zsolnay Verlag 2020