Der Vortragssaal des Literaturhauses Stuttgart bietet ca. zweihundert Personen Platz. Als ich ihn gestern aus Anlass meiner Online-Lesung betrat, war er fast leer. Keine Stuhlreihen, kein Publikum, wohl aber ein großes Regiepult mit mehreren Monitoren. Daran saß Alex Katsaros, der meine Lesung vorbereitete und noch einmal den Ablaufplan durchging, den ich ihm zugeschickt hatte. Auch Stefanie Stegmann, die Leiterin des Literaturhauses, war da, und wir unterhalten uns eine Weile über die erheblichen nicht nur finanziellen Probleme, mit denen die Literaturhäuser gegenwärtig zu kämpfen haben.
Kurz darauf saß ich an dem kleinen Lesetisch, an dem ich schon unzählige Male (dann aber natürlich vor Publikum) gesessen habe. Alex Katsaros hatte in Absprache mit mir ein bildliches Szenario unterworfen: Ich sollte als Vortragender laufend im Bild bleiben – und zu meiner Linken sollte man die eingeblendeten Fotos meines Buches In meinen Gärten und Wäldern sowie die von mir ausgewählten Musikvideos (siehe meinen gestrigen Blogbeitrag) zu sehen bekommen.
Ich trank vor Beginn noch eine kleine Flasche Wasser und las ein paar Sätze, ich saß bequem und hatte nur Stefanie Stegmann und Alex Katsaros vor mir, die an den Monitoren saßen und meine Lesung als Regieduo verfolgten.
Sind Sie bereit?! Ja, war ich. Stefanie Stegmann begrüßte die Leserinnen und Leser (in aller Welt) – dann begann die Lesung. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass weit mehr als die in Präsenzveranstaltungen möglichen zweihundert Gäste zugeschaltet hatten, die Schätzungen anhand der eingegangenen Ticketwünsche beliefen sich auf mehr als das Doppelte.
Die große Zahl irritierte mich aber nicht, ich konzentrierte mich auf die Lesung – die Texte aus zwei Büchern, meine Fotos, die Videos, meine Kommentare zu den Textstellen, Bildern und Filmen – und ich spürte, wie stark diese Konzentration war und wie sie im Verlauf der Lesung noch stärker wurde. Dazu trug die Stille im Raum bei – und nicht zuletzt die erhöhte Aufmerksamkeit des Regieduos und seine Präsenz in naher Ferne.
Fast anderthalb Stunden dauerte die Lesung – und war auf diese Weise (trotz fehlendem, stark vermisstem Publikum) eine neue, sehr gute und interessante Erfahrung: Das Zusammenspiel der Medien, keine Ablenkung, eine Lesung wie aus einem Meditationsraum, aus dem das Flüstern nach draußen dringt, weitergeleitet wird und Impulse überallhin verbreitet.
Danach streifte ich allein durch das leere, nächtliche Stuttgart. Leicht überdreht, bildete ich mir ein, dass meine Lesung Wellen und Wogen geschlagen hatte. Im Schaufenster eines Geschäfts mit elektronischen Geräten erkannte ich einige Fernseher mit laufendem Programm. Die Nachrichten berichteten von der Vereidigung des neuen Präsidenten Joe Biden in den USA. Schau hin, sagte ich mir, komm wieder zu Dir, Du bist nicht allein auf der Welt…