(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Während eines Telefonats mit meinem Freund Felix stutzte ich, als er einen Begriff benutzte, den ich lange nicht mehr gehört hatte. Er behauptete nämlich, die Zeiten der Coronapandemie seien Extremzeiten der „Ungleichzeitigkeit“. Wie bitte?! Als junger Student war ich diesem Begriff in den Schriften des Philosophen Ernst Bloch zum ersten Mal begegnet. Bloch hatte damit die unterschiedlichen Entwicklungsstufen von gesellschaftlichen Schichten bezeichnet. Der große Korpus Gesellschaft lebte ihm zufolge in ganz unterschiedlichen Zeitverhältnissen – manche Gruppen um Jahrzehnte verspätet, manche eng gebunden an die neusten Prozesse des vermeintlichen Fortschritts.
Felix verwendete den Begriff aber noch in einem anderen Sinn. Ihm fällt auf, dass die in den Pandemiezeiten neu strukturierten Arbeitsverhältnisse eine Orientierung an gemeinsamen Arbeitszeiten kaum noch zulassen. Unser Freund Ludwig zum Beispiel beginnt die Arbeit in seinem Homeoffice morgens um Sieben, arbeitet drei Stunden, geht einkaufen und kümmert sich danach um seine Tochter. Will man ihn erreichen, trifft man ihn ab zehn eine Zeitlang nicht mehr in seinem Homeoffice an. Wohl aber wieder am Mittag gegen eins. Dann aber ist Felix gerade in eine kurze Siesta abgetaucht.
Heidrun wiederum organisiert ihren Homeoffice-Betrieb in laufender Absprache mit zwei Freundinnen. Als Single hilft sie bei der Betreuung von deren Kindern, manchmal sehr früh am Morgen, manchmal am späten Nachmittag. Die Betreuungszeiten wechseln von Tag zu Tag, Heidrun macht das aber nichts aus, sie betreibt allein eine kleine Agentur. Den Tag über ist sie im Homeoffice allerdings nur schwer erreichbar, sie meldet sich zurück, wenn sie Zeit hat. Dann aber haben ihre Ansprechpartner oft keine, so dass man über mehrere Tage hinweg häufig den Kontakt suchen muss.
Ich verstand, was Felix mit „Ungleichzeitigkeit“ meinte und steuerte einen Begriff bei, den ich ebenfalls vor vielen Jahren aufgeschnappt hatte. Die Soziologin Helga Nowotny hatte damals ein Buch über „Eigenzeit“ geschrieben. Darin hatte sie die individuellen Erlebniszeiten in Stellung gebracht gegenüber den gesellschaftlich abgerufenen und geforderten Arbeitszeiten. Kollidierten die beiden Zeitansprüche, erlebten die Einzelnen oft starke Krisen, die zu einer diffusen und gestörten Zeitwahrnehmung führten.
Die Ungleichzeitigkeit in den Arbeitsrhythmen radikalisiert in den Pandemiezeiten das Erleben der „Eigenzeit“, behauptete ich. Wir wurden fast alle neu darauf geeicht, jeden einzelnen Tag nach unseren jeweiligen Möglichkeiten zu planen und zu gestalten. Solche „Eigenzeit“ passt sich aber kaum noch an die „Eigenzeiten“ in unserer Umgebung an. Jeder lebt für sich in einem immer beengter werdenden Erlebnisraum, muss Kontakte mühsam verabreden oder gar suchen. Das aber führt zu starken Belastungen, weil unsere althergebrachten Gewohnheiten und Rituale ihre vertraute Beständigkeit verloren haben. Sie erscheinen außer Kraft gesetzt, so dass viele die durch sie vermittelten Sicherheiten immer stärker vermissen.
Das setzt Flucht- und Ausbruchsideen frei, die sich manchmal auch in altromantischen Erlebnisfantasien niederschlagen. So gab ich meinem Freund Felix gegenüber zu, mich wieder häufiger in meine pubertäre Lieblingslektüre, Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, zu vertiefen. Das, sagte ich bewundernd, ist eine wunderbar luftige Erzählung von radikalem Freiheitswillen. Der Schnee tröpfelt vom Dach des Elternhauses, der Vater ist unleidlich und borniert wie so oft – da packt der junge Taugenichts die Gelegenheit beim Schopf und zieht einfach los. Kein Gepäck, keine Absprachen, nur auf und davon!
Ach, antwortete Felix zum Schluss unseres Gesprächs, wenn man wenigstens das jetzt noch könnte!