(Am 27. Februar 2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Viele meiner Freunde möchten nicht mehr durch die Stadt ziehen und Winkel erkunden, in denen sie sich in früheren Zeiten nie aufgehalten hätten. Inzwischen haben sie jedes ethnografische Interesse an näheren oder weiteren Umgebungen verloren. Mit dem Auto aufs Land möchten sie auch nicht mehr, denn sie wollen keine Wanderwege ablaufen, die genau so aussehen, wie Wanderwege im Regionalprogramm des WDR eben meist aussehen.
Der „stille Fastelovend“ hat ihnen den Rest gegeben. Sich am Rosenmontag ins Haus zu verziehen und den Kommentaren von Guido Cantz zum Hänneschenzug zu lauschen – das war redlich, gut gemeint, aber auch unsäglich brav und damit eine Spur zuviel. Da schmeckten nicht einmal zwei oder drei Kölsch, nichts schmeckte mehr, einige saßen am Abend des Rosenmontags nur noch schweigend in ihren Sesseln und gingen nach frustierenden Stunden früh zu Bett.
All das hat mit Melancholie nichts mehr zu tun, denn diese gute, alte Melancholie hatte weiche, verträumte und diffuse Noten, die sich vor allem in Übergangsstadien bemerkbar machten. Jetzt aber ist alles schärfer und bitterer. Die Pandemie scheint nicht mehr zu vergehen, laufend entwirft sie neue Dramen, während man ihre Daten und Verläufe nicht mehr zur Kenntnis nehmen, geschweige denn auf sie reagieren will.
In den Talkshows sitzen immer dieselben Personen und wirken so, als wären sie seit Jahren dort festgewachsen und wiederholten immer dieselben Texte. Markus Lanz wird grauer und grauer, und Oliver Welke grinst inzwischen so zwanghaft, als bereiteten seine Witze selbst ihm einige Schmerzen. Das Pandemie-Vokabular ist verbraucht, so dass man viele Sendungen lieber gleich ignoriert und sich auf den Mars beamt, wo eine Sonde wenigstens noch so tut, als wäre ihr bloßes Dasein auf dem fernen Planeten bereits weltbewegend.
Wie geht’s, wie steht’s? Die alten, höflichen Fragen wirken inzwischen wie blanker Hohn. Nichts geht mehr, und es steht miserabel und so, als wären Gedanken an eine bessere Zukunft fast aussichtslos. Selbst das vor kurzem noch Hoffnung machende Impfthema scheint bereits überholt, denn man ahnt, dass nach den Impfungen weitere, noch nicht geahnte Katastrophen drohen. Die Bundeskanzlerin hat von der Zeit nach der Pandemie gesprochen, dann soll unser Leben wenigstens digital wieder so richtig abgehen. Sind das etwa schöne Aussichten?
In den Arztpraxen sitzen inzwischen Kinder, die das digitale Leben längst leid sind. Sie starren auf ihr Smartphone, das nur noch ein fettes Rauschen hören lässt. Spricht man sie an, antworten sie nicht mehr. Abwesend, entmutigt und lustlos hocken sie herum und können sich eine andere Zeit kaum noch vorstellen. Auch viele Eltern denken nicht gern an eine Fortsetzung ihres digitalen Lebens im Homeoffice. Dort verschwimmen die vielen Stunden zu einem Lagerkoller, in dem sich Privates mit dem Öffentlichen so lusttötend mischt, wie es selbst George Orwell sich nicht ausdenken mochte.
Wagt man überhaupt noch zu träumen, dann von den einfachsten Dingen. In einem Brauhaus zusammen mit ein paar Freunden zu sitzen und zum Kölsch ein paar Radieschen zu essen. In einer Kirche mit anderen ein Lied zu singen, das man als Kind oft und gerne nicht nur in Kirchen gesungen hat. In der Kölner Philharmonie einen Platz einzunehmen und ein Orchester vor dem Konzert die Instrumente stimmen zu hören. Solche kleinen Momente… – sie wären ein Fest. Ohne sie groß zu bereden, würde man sie genießen, weil man sie noch nie als große Momente erlebt hat. Alles hät sing Zick! – murmelte neulich einer meiner Freunde leise vor sich hin. Wovon sprichst Du?, fragte ich. Vom nächsten Karnevalsmotto! antwortete er. Alles hat seine Zeit…, Altes Testament, Prediger Salomo…- da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich zu sein…