Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte zum österlichen „Fest des Suchens“ eingeladen und mich u.a. gefragt: Was haben Sie vor kurzem einmal gesucht und wiedergefunden? Hier mein Text (erschienen am 3. April 2021, S.3):
Wie ich meine Stimme wiederfand…
In den frühen sechziger Jahren freute ich mich über meinen ersten Kassettenrecorder. Auf so ein Gerät hatte ich gewartet. Leicht und handlich wie er war, konnte ich ihn überallhin mitnehmen und unbeobachtet Aufnahmen machen: Geräuschkulissen von Straßen, Gespräche in Läden oder die Musik von Straßenmusikanten – ich war süchtig danach, die Klänge und Töne meiner Umgebung festzuhalten.
Schließlich wagte ich es sogar, Szenen des täglichen Schulunterrichts heimlich aufzuzeichnen. Der Recorder steckte in meiner Schultasche, nur das Mikrofon schaute heraus, ich verdeckte es mit meinem rechten Arm und ließ das Band stundenlang laufen. Griechisch, Latein, Mathematik – ich speicherte die Schulstunden und hörte mir die ereignisarmen Sequenzen später so begeistert an, als enthielten sie rare Sensationen.
Vor kurzem suchte ich nach meinem alten Recorder und fand ihn zusammen mit unzähligen Kassetten in einer Depotkiste meines Archivs. Er funktionierte noch tadellos, so dass es mich reizte, einige Bänder mal wieder laufen zu lassen. Tauchte meine eigene Stimme etwa auch irgendwo auf?! Nach längerem Herumspulen hörte ich einen hohen Sopran, stark rheinisch und kölsch gefärbt! Während einer Mathestunde dividierte, multiplizierte und subtrahierte er! Die Stimme zitterte, die Angst, einen Fehler zu machen, merkte man ihr deutlich an. Ein Lehrer begleitete sie im Basso continuo: richtig, weiter, in Ordnung!
Schließlich atmete der nervöse Knabe tief aus. Er stöhnte leise „geschafft!“ und beendete die Aufnahme. Ich schloss die Augen und sah ihn vor mir – den streng gezogenen Scheitel und die kurzen, dunkelblauen Hosen!
Ich werde alle Kassetten aufbewahren. Sie bekommen ein eigenes Regal und werden chronologisch geordnet. Hänge ich mal durch, werden sie mich motivieren: Hey, das bin ich, vor mehr als fünfzig Jahren, als kreative Avantgarde des O-Ton-Hörspiels der siebziger Jahre!