(Am 05.05.2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“)
In meinem Freundeskreis herrscht ein auffälliger Mangel an willigen Kanzlerkandidaten. Das ist umso erstaunlicher, weil gegenwärtig an jeder Ecke eine Kandidatin oder ein Kandidat lauert. Es gibt die erklärten Kandidaten, aber auch solche in Wartestellung, die bei der Erstnominierung den Kürzeren gezogen haben, ihre Bereitschaft aber laufend weiter signalisieren. Ein vor früheren Wahlen noch nicht gekannter Ehrgeiz scheint allerorten zu glimmen, und meine Freunde fragen sich besorgt, wie er bloß entstehen konnte. Spielt auch hier die Pandemie eine Rolle?
Meine Freunde können sich nicht vorstellen, wie und warum ein solcher Ehrgeiz entsteht. Ist das Kanzleramt wirklich so attraktiv und lohnend, dass man Tag und Nacht darauf hinarbeiten möchte? „Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen“ – der Satz Robert Habecks klingt nach und wirkt beunruhigend. Was ist mit ihm geschehen? Anscheinend war er doch einmal ein besonnener, einfühlsamer Mann, der mit der persönlichen Lebensplanung mehr verbunden hatte als den Griff nach dem höchsten Amt. Und hat Armin Laschet sich wirklich klargemacht, dass es mit den ruhigen Zeiten in Aachens Printenregionen vorbei ist, wenn er es wirklich schaffen sollte?
Allen, die kandidieren, droht als erstes der Image-Zugriff einer großen PR-Agentur. Sie wird von der Frisur über die Kleidung bis hin zu jedem laut gesprochenen Wort kontrollieren, ob Schritte und Worte auch passend sitzen. Vom morgendlichen Erwachen bis in die tiefe Nacht wird diese Kontrolle spürbar sein und eine schon bald nicht mehr zu übersehende Lähmung auslösen. Nach einigen Wochen Kandidatur erkannte Martin Schulz sich bekanntlich nicht mehr wieder, das ist belegt und sollte als Warnung dienen. Anscheinend lässt sich aber niemand mehr warnen, alle wollen nur noch das Eine, als bewirke das Amt einen seligmachenden Zustand, der höchste Befriedigung verschafft.
Erwacht man aus diesen Träumen, sitzt man im Berliner Kanzleramt, und das ist wahrlich kein Prachtbau. Tagaus tagein umgeben einen Stäbe von Beratern und verlesen wenig schmeichelhafte bis kritische Kommentare aus aller Welt. Entweder hat man keine der viel zitierten Visionen, oder man hat zu viele und vernachlässigt die Erdhaftung. Millionen von Menschen haben alles im Blick und zu allem und jedem etwas zu sagen. Um bei sich zu bleiben und die Lebensfreude halbwegs zu bewahren, flüchtet man dann und wann für eine halbe Stunde in einen schalldichten Raum, hört Beethovens Neunte oder entspannt sich bei einem Video mit Helge Schneider.
Seit Annalena Baerbock erklärte Kandidatin ist, laufen die Recherchen nach früheren Defiziten oder möglichen Fehlern auf Hochtouren. Fünf Monate bis zu den Wahlen sind eine lange Zeit, die mit laufend neuen Crashnachrichten gespickt werden muß. Da wirbeln einem Gerüchtestürme um die Nase, denen früher nur Kanzler gewachsen waren, die in ihren Gärten noch Rosen züchteten. Jetzt aber hat man als Kandidatin oder Amtsinhaber nicht einmal mehr einen eigenen Garten. Die Totalüberwachung stiehlt einem jede Sorglosigkeit und lässt einen noch in den Träumen an die nächsten Katastrophen denken.
Nein, meine Freunde würden sich so etwas niemals antun. Nicht einmal vorstellen können sie sich, wie man daran Gefallen findet. Die Kandidatur halten sie für eine Rolle in einem Drehbuch, das viele Teams geschrieben haben, ohne dass man lange gefragt worden wäre. Was bleibet aber, schrieb Hölderlin, stiften die Dichter…