Die alten und die neuen Zeiten

(Am 4.8. auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Johanna Adorján hat einen Roman (Ciao) geschrieben, in dem nach ihren eigenen Erläuterungen „ganz nette, mittelalte Männer“ vorkommen, „die Feminismus gut finden, aber plötzlich nicht mehr wissen, ob sie einem eigentlich ein Kompliment machen dürfen oder ob das neuerdings verpönt ist“. Einige meiner Freunde haben zustimmend genickt, ja, das stimmt, auch sie haben bemerkt, „dass sich Dinge verändert haben und sie Sachen falsch machen können“, und auch sie „wissen gar nicht genau, was“.

Im Hintergrund geht es aber um viel mehr als um Stimmungslagen von Männern, die stark irritiert sind. Die alten und die neuen, gegenwärtigen Zeiten scheinen generell kaum noch etwas gemeinsam zu haben. Gesellschaftliche Veränderungen verlaufen momentan auf vielen Ebenen verstörend rasant, Johanna Adorján spricht sogar von der größten gesellschaftlichen Umwälzung seit 1968.

Wenn sich meine Freunde an die eigene Nachkriegskindheit erinnern, gehen die rückwärtsgewandten Fantasien in Zeiten zurück, in denen die Medien noch eine kaum spürbare Rolle spielten. Es gab kein Fernsehen, telefoniert wurde  selten, und im Radio hörte man nur ab und zu ein paar Nachrichten und sonst höchstens die neusten Schlager. Man selbst kam in diesem Mediensäuseln nicht vor, sondern lebte in engen familiären Bezirken und schaute nur im Urlaub ein paar Meter nach draussen. Der Zusammenhalt mit „den anderen“ verlief in einem fast dörflich zu nennenden, begrenzten Raum, um dessen Gewohnheiten und Lebensregeln alle wussten, die sich ihm zugehörig fühlten.

Von diesen beschaulichen, geradezu somnambul verbrachten Zeiten ist nicht das Geringste mehr übrig geblieben. Die engen Zirkel sind längst gesprengt, jede Aktion steht unter medialer Aufsicht, und die Menschen sind eifrige Protagonisten, die der Metapher vom Leben als Schauspiel genügen wollen. Damit sind elementare Umbrüche im Lebensgefühl verbunden. Die intimen, dialogischen Räume gingen verloren, und die früher oft noch gesellig-empathischen Diskurse verlaufen jetzt auf Plattformen, wo Kritik, Häme, Mißgunst und Neid selbstverständlich sind.

Das Leben in den Twitter- oder Instagram-Rhythmen der sozialen Medien empfinden die meisten Freunde inzwischen nicht mehr als lebenswert. Themen und Kommentare erhalten für wenige, flüchtige Momente eine Scheinbedeutung, die sich lautstark darstellen muss, weil sie bereits am nächsten Tag wieder verpufft ist. Da jedes Mal eine Vielzahl von Menschen ungefragt an ihnen teilnimmt, lebt man in Wogen kleiner Dispute, die sich immer mehr in Haarspaltereien ergehen. Die größeren sozialen und ökonomischen Themen werden kleinteilig seziert, so lange, bis die Fragestellungen verblasst sind. „Leider werden die Debatten oft sehr schwarz-weiß geführt“, sagt Johanna Adorján, „es gibt überhaupt kein Dazwischen mehr, keine Geduld und Nachsicht.“

Genau das lässt viele meiner Freunde gegenwärtig verzweifeln. Einige träumen ernsthaft vom Auswandern, andere ziehen sich verunsichert in kleine Lebensbezirke zurück und beschränken sich auf minimalste Lebensäußerungen. Das Vertrauen ins „große Ganze“ existiert nicht mehr, überall scheinen Gefahren zu drohen.

Die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts wird man einmal als eine Zeit zuvor unvorstellbarer Katastrophen erkennen, geprägt durch eine Rückkehr von Empfindungen, die früher durch Kriege ausgelöst wurden. Die öffentlichen Diskurse tragen nicht mehr zu ihrer Bewältigung bei. Auch die „Seel-sorger“, die einmal für den Seelenfrieden zuständig waren, bieten keinen nennenswerten Halt. Die Kirchen leeren sich, und im Winde klirren die Fahnen…