So, jetzt habe ich endlich auch Nomadland gesehen! Es gab allen Grund, vor diesem außergewöhnlichen Film Respekt zu haben, denn er hat nicht nur den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig, sondern auch gleich mehrere Oscars und viele, viele weitere bedeutende Preise gewonnen.
Ich habe versucht, diesen Respekt zu verdrängen und als naiver, wenig vorinformierter Besucher einen Film anzuschauen, von dem ich nur wusste, dass seine Hauptfigur von der Schauspielerin Frances Louise McDormand gespielt wird (die ich aus dem Film Three Billboards Outside Ebbing, Missouri kannte – am 7.3.2018 habe ich in diesem Blog darüber geschrieben).
Sie „spielt“ in Nomadland aber keine bloß erdachte Figur, sondern verkörpert eine Frau, die nach mehreren schweren Schicksalsschlägen mit ihrem Van auf den Straßen und in den südlichen Landschaften der USA unterwegs ist. Sie bleibt in ihrem Wagen weitgehend allein und für sich, trifft unterwegs aber immer wieder (in hinreissenden landschaftlichen Panoramen) auf Menschen, die wie sie allein unterwegs sind und sich bei Gelegenheit für Stunden oder Tage treffen, um sich auszutauschen.
Auch diese Menschen sind keine „Figuren“ im landläufigen Sinn, sondern verkörpern zunächst einmal sich selbst: ihr Leben, ihre Gewohnheiten, ihr Sprechen, Denken und Fühlen. Die meisten haben noch nie in einem Spielfilm mitgewirkt, daher erschienen sie nicht wie inszenierte Gestalten, sondern wie Laiendarsteller, die der Film in ihren eigenen Grenzen und Besonderheiten zu Wort kommen lässt.
Als „Nomaden“ sehen sie sich, als Menschen, die kein festes Zuhause haben und auch keines haben wollen. Um sich einen Verdienst zu sichern, übernehmen sie Teilzeitaktivitäten in Fabriken, Genossenschaften oder landwirtschaftlichen Betrieben. So arbeiten sie an einem in ihren Augen selbständigen Leben, ohne Bevormundung und beschränkende Eingriffe von außen.
An diesem auf den ersten Blick schlichten Dasein teilzunehmen, überraschte mich in der Rolle des Zuschauers. Laufend fragte ich mich, was ich an dieser uneitlen, geradlinigen, direkten und starken Hauptdarstellerin so eindrucksvoll fand. Und weiter dachte ich darüber nach, wie es einer Regisseurin (wie der in China geborenen Chloé Zhao, die seit langem in den USA lebt) gelungen war, in den letzten Krisenjahren einen Film zu drehen, der ohne jede Spur von Aggression oder Gewalt auskommt.
Selten habe ich nämlich so selbstverständlich erscheinende Formen von Zuneigung und Hilfsbereitschaft gesehen wie in diesem Film. Die Menschen stehen einander nie im Wege, sondern gehen unentwegt aufeinander zu, unterstützen und beraten sich und entwickeln dabei eine unaufgeregte Lebensklugkeit, die einen in jeder Szene verblüfft.
Als diese großen Stärken des Films mich erreicht hatten, begriff ich, warum es diesem Film gelungen war, derart viele Auszeichnungen zu erhalten. Es ist der Film, der zu unseren letzten Krisenjahren auf schon beinahe unheimliche Weise passt: Als Geschichte einer Frau, die sich von allem Vertrauten löst, ihr Leben selbst in die Hand nimmt und nur noch der eigenen Urteilskraft vertraut.
Nomadland entwirft in diesem Sinn ein eindrucksvolles Autarkiemodell unserer Tage: als Meditation über unterschiedliche Lebensformen, die alten Freiheitsideen abgewonnen werden, um sie neu zu aktualisieren. (Dass die Filmmusik von Ludovico Einaudi (gerade weil sie so „schön“ und „sentimental“ daherschleicht und sich jeder Autofahrt anschmiegt, als wollte sie am liebsten gleich mit einsteigen) nicht dazu passt, habe ich immer mehr zu überhören versucht und mich auf die Bilder verlassen…)
Ich werde Nomadland bald noch einmal sehen und seinen therapeutischen Ehrgeiz noch genauer studieren. Schon die Entstehungsgeschichte des Films (im entsprechenden Wikipedia-Artikel kurz erläutert) ist langes Nachdenken wert.