Pitchen

(Am 8.9.2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Noch nie waren die meisten meiner Freunde vor einer Bundestagswahl derart unentschieden, wen oder was sie wählen sollen. Das Ende der Amtszeit von Angela Merkel bringt eine Palette der Möglichkeiten mit sich, die etwas Verstörendes hat. Die übergroßen Problemfelder erscheinen drängend und ungelöst, während die Programme der Parteien wie ein Stückwerk erscheinen, das die Phalanx der Themen höchstens abarbeitet, aber nicht im starken, großen Zugriff angeht und behandelt.

Bei der Lektüre falle auf, behauptet mein Freund Paul, dass sie ihre Angebote an das Wählervolk nicht mehr ideenreich pitchen können. Pitchen?! Paul arbeitet in einem Verlag, deshalb hat er laufend mit Manuskripten zu tun, die von Agenturen werbewirksam ins rechte Licht gesetzt und angeboten werden. Die Texte, die dabei entstehen, dürfen weder zu übertrieben noch zu bekannt wirken. Vielmehr sollen sie die Umworbenen überraschen, mit Aussagen, die neugierig machen und außerdem ein Erzählfeld eröffnen, das sich in daran anknüfenden Fantasien weitet.

Gut gepitchte Texte bleiben unverwechselbar in Erinnerung, setzen sich wie Ohrwürmer fest und verbinden sich mit den Namen der Auftraggeber. „Und läuft und läuft und läuft“ war einmal ein ideales Pitching von VW, das einem Schriftsteller der Konkreten Poesie eingefallen war. Das wirkte nur auf den ersten Blick schlicht und banal. Auf den zweiten traf es genau ins Zentrum, nämlich auf das Angebot eines Autos, das nichts anderes tat als beständig zu fahren, bei jedem Wetter, jahrelang, ohne Kummer zu machen.

Elegantes Pitchen vereint mögliche Attribute und Bestandteile eines Angebots zu einem erkennbaren Slogan und einer Botschaft, die das Angebot in vielfacher Brechung leuchten lässt. „Respekt für Dich“ tut das zum Beispiel nicht. Wenn man es an Straßenrändern liest, verbinden sich damit keine sich öffnenden Welten. Es könnte sich auch um Werbung für Baumärkte handeln, in denen man in der Tat auf Slogans wie „Respekt wer’s selber macht“ trifft.

Den Parteien gelingt das Pitchen nicht, weil sie sich textuell verfransen. Sie denken nicht mehr aus einem Guss, weil ihnen der soziale, ethische und kommunikative Hintergrund von Lebensentwürfen abhanden gekommen ist. Worauf sollen sie sich noch beziehen? Gibt es überhaupt noch so etwas wie „Weltbilder“, die früher vor den Programmen da waren und später Folien für die Behandlung der Themen waren?

Die Parteien erwecken eher den Eindruck, diffus vor sich hin zu werkeln. Sie schicken ihre Leute wie blasse Abziehbilder ins Rennen, die an den Haustüren ihre Diener machen und Blumen überreichen. Da kommt der Wahl-O-Mat gerade zur rechten Zeit. Er listet 38 Fragen in bunter Reihenfolge so auf, dass die Fragen einfach und direkt beantwortet werden können. Mein Freund Paul hat den Test gemacht und seine Antworten mit den Programmen aller Parteien abgleichen lassen, die sich gegenwärtig für den Bundestag bewerben.

Fasziniert las er das Ergebnis. Ginge es nach dem Wahl-O-Mat, sollte er den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) wählen. Warum den, um Himmels willen? Der SSW setzt sich anscheinend besonders stark für Minderheiten und die sozialen Belange der Menschen ein. Und er orientiert sich an der sozialdemokratischen Politik der skandinavischen Länder! Na sowas! Bedeutet das in letzter Konsequenz, dass Paul in den Norden auswandern sollte? Seit der Wahl-O-Mat für ihn gedacht hat, ist Paul der Gedanke nicht mehr fremd. Neuste Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten glücklichen Menschen der Welt in Dänemark wohnen. Mich hat es heimlich immer dorthin gezogen, sagt Paul. Warum bin ich meinen Instinkten nicht längst gefolgt? Jetzt weiß ich viel mehr, als wen oder was ich wählen könnte…