Das grosse Nichts

(Am 6. Oktober 2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Was für ein Vakuum! Die sondierenden Parteien reden von den Inhalten, die sie (natürlich „auf Augenhöhe“, „mit viel Demut“ und Selfie-Gedöns) inszenieren. Was dabei entsteht, ist eine seltene Form von Journalismus: einer ohne Inhalte, der laufend dieselben Fragen stellt und weder etwas erfährt noch sonstwie vorankommt.

Also berichtet man einfach mal über das große Nichts, es besteht aus dem leichten, direkten oder indirekten Lächeln von Annalena A. oder Robert B., aus der Untersuchung ihrer Hosennähte oder der Schwere der Aktentaschen, die herumgetragen werden. Unglaublich vielsagend soll auch sein, auf welchem Gelände sich wer mit wem im Einzelnen wozu verabredet hat. Als Sensation erscheint es bereits, wenn Markus S. einmal einen Schritt schneller geht als sein Generalsekretär.

Wie sieht das Leben all dieser Politiker gerade wohl aus? Das fragen sich meine Freunde und schütteln den Kopf. War es nötig, sich so zu bescheiden und vor den Journalisten eine solche Farce zu inszenieren, als bewegten die sich im Kraftfeld des Grals und seines Hüters Amfortas, der bekanntlich erlöst wird, wenn er das Richtige gefragt wird? Die Volksvertreter sagen nichts und winden sich stattdessen vor Mikrofonen, obwohl ihnen die erlösenden Sätze längst auf der Zunge brennen.

Um sich zumindest ein wenig voneinander zu unterscheiden, hat sich das Spiel zu einem Panoptikum mit verschiedenen Rollen entwickelt. Olaf S. bevorzugt die des Untertauchers, der auch einmal für ein paar Augenblicke von den Bildflächen verschwindet, um nach den Blumen in seinem Garten zu sehen, während Armin L. die Rolle des Mannes übernommen hat, der unter einer tiefen Max Frisch-Krise leidet: Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Homo faber? Stiller? Oder ein ganz anderer? Christian L. träumt in den Pausen des Schweigens von den Automobilen der Zukunft, mit denen er schon als junger Azubi so gerne gefahren wäre, und Annalena B. hat eine Gymnastik entdeckt, die das Reden im hohen Sopran mit leidenschaftlich wirkender Körpersprache verbindet.

Vollends komisch wird dieses Theater, wenn es als Talkshow aufgeführt wird. Zu Beginn lächeln die Moderatorinnen noch wohlgemut, dann aber geht ihnen in den sich endlos hinziehenden Phasen des inhaltlichen Stillstands allmählich jede Puste aus, und man beobachtet Journalistinnen, die wie in Trance vieles durcheinander bringen. Welche Partei vertritt, verflixt nochmal, der Herr in Blau, der sich gerade so vielsagend kratzt? Und was will die mir gegenübersitzende Dame in Rot uns allen damit sagen, dass sie sich über ihr Knie streicht?

In den Sendern liest man rasch noch einmal die Klassiker zur Körpersprache. Samy Molchos Bücher nahmen es sogar mit pantomimischen Darstellungen auf, und Geheimagenten des FBI haben darüber geschrieben, wie man Menschen liest, die etwas Böses vorhaben. Von links nach rechts? Von oben nach unten? Oder quer, einfach mal quer, gescannt?

Das deutet an, wohin sich die Politik zurückgezogen hat – ein Leben in Verstecken und im Dunkel hinter Vorhängen, die höchstens mal kurz rascheln dürfen. Meine italienischen Freunde lachen darüber. Sie nennen es aus alter Erfahrung eine Frühform der Commedia dell´arte. Gute Idee, sagen meine deutschen Freunde, daraus soll ja einmal Kunst entstanden sein. Hoffen wir wenigstens das!