Die französische Künstlerin Sophie Calle, deren literarische Arbeiten ich seit vielen Jahren verfolge, hat fünfundsechzig kurze Geschichten zu einem abwechslungsreichen Lebensrückblick komponiert.
Jede Erzählung kreist um ein zentrales Psychomotiv einer Begeisterung, einer Verletzung, eines Bruchs oder eines Bekenntnisses. Kommentiert und scheinbar beglaubigt werden diese Textfragmente durch Fotografien, die den Texten eine visuelle Seitenspur anfügen.
Fraglich erscheint aber mit zunehmender Lektüre, ob es sich bei den Fotografien wirklich um solche der Autorin oder nicht eher um zufällige Fundstücke handelt. Hat man sich auf diesen Zweifel eingelassen, liest man auch die kurzen Texte anders: Sind es „wahre Geschichten“? Oder Dramatisierungen von Fantasien? Oder Entwürfe für ein zukünftiges Traumleben?
Sophie Calle spielt mit den Mustern der neuerdings besonders aktuell gewordenen „autofiktionalen Literatur“. Ihre „wahren Geschichten“ erweisen sich dabei bereits als ein besonders gelungenes Beispiel dieses Genres.
Die Lektüre erschien mir ungeheuer belebend. Sie entzündete im Weiter- und Nachfantasieren Projekte eines von minimalen Impulsen ausgehenden Bilder- und Fantasieangebots, das in eigene, nie geahnte Geschichten umschlägt, von denen ich am Ende selbst nicht mehr sagen konnte, ob ich sie mir ausgedacht oder erlebt hatte. So gesehen ist dieses Buch ein Animationsspeicher mit fast unbegrenzten Möglichkeiten.
- Sophie Calle: Wahre Geschichten. 65 Erzählungen. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Suhrkamp Verlag 2021