(Am 14.12.2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
„Allein“, „Einzeln sein“, „Für sich sein“, „Die neue Einsamkeit“ – das sind nicht zufällig Titel von gegenwärtig viel gelesenen Sachbüchern. Sie stellen Diagnosen der Pandemie, die das Innenleben unserer Gesellschaft ausleuchten und jene sich deutlich herausbildenden Lebensformen beschreiben, die auch ich in meinem Freundeskreis beim Blick auf die verschiedensten sozialen Schichten und Altersstufen beobachten kann. In den öffentlichen Debatten treten sie meist hinter den lautstark diskutierten Themen wie Impfpflicht, Inzidenzen, Hospitalisierung zurück, weil sie eher leise und oft auch nur scheu behandelt werden.
Die regelmäßig über das Land hereinbrechenden Pandemiewellen rütteln immer von neuem und immer mächtiger an den alten, vertrauten Lebensbezügen. Sie bewirken nicht mehr nachlassende, tief sitzende Irritationen, die zum Rückzug führen. Der große Reichtum von Erlebnissen und Eindrücken schrumpft zusammen, viele Menschen bewegen sich nur noch in kleinen Kreisen, reduzieren den Umgang mit Freunden und halten sich lange Zeiten in Räumen auf, die den Charakter von Verstecken annehmen.
Das führt oft zu einer psychischen Isolation, die hinter den lustlos absolvierten täglichen Pflichten gefährlich lauert. Sie tritt nicht offen zutage, hinterlässt aber deutliche Spuren. Die immergleichen Nachrichten machen das Erzählen mundtot, sie reduzieren es auf ein Berichten und Sortieren von Meinungen zu den alles beherrschenden Daten und Fakten. Langsam zieht eine sich dadurch einstellende Stummheit in die Beziehungen ein, sie trennt Paare und Freunde und wirft die Einzelnen auf sich selbst zurück.
Manche reagieren panisch mit kurzfristigen Entscheidungen für neue Lebensformen, sie ziehen um, kündigen den Job oder suchen einen Halt bei Therapeuten der unterschiedlichsten Art. Dabei verlieren sie immer mehr das Vertrauen in die Zukunft. Geht es ganz verloren, stellen sich Depressionen ein, die das isolierte Leben noch stärker verdunkeln.
Dass lebensstimulierende Künste wie etwa Schauspiel oder Musik gegenwärtig nur noch sehr reduziert möglich sind, ist besonders fatal. In den alten Zeiten haben sie viele Begeisterungsfähige zusammengeführt, die sich zwar nicht von vornherein nahe waren, aber stets neugierig und oft geradezu hingerissen an überraschenden Darbietungen teilnahmen. Sie vermittelten Vitalität und wirkten lange nach. Ihre Blockade ist auch deshalb so katastrophal, weil sie den dringend notwendigen Sauerstoff für ein sich regenerierendes Leben lieferten.
Bald werden die versteckten Krankheitssymptome sich auch in öffentlich werdenden Zahlen niederschlagen. In England haben die Nachforschungen zu Themen wie Einsamkeit und Isolation vor einiger Zeit sogar zur Bildung eines damit beschäftigen Ministeriums geführt. Solche Warnsignale sollte die neue Regierung auch im Auge behalten. Möglich wären zum Beispiel Anstrengungen, durch die Abteilungen des Gesundheits- und Familienministeriums im Zusammenspiel Hilfsangebote entwickeln und strukturieren. Sie müssten mit Institutionen abgestimmt werden, die in der Betreuung von psychisch gefährdeten Menschen Erfahrung haben und Lebensgeschichten zu deuten verstehen.
Karl Lauterbach sollte also nicht nur die neusten Omikron-Studien lesen und darauf reagieren, sondern sich auch an Themen wagen, deren Behandlung eine besondere, neue Art von staatlichem „Fortschritt“ markieren würde. Ihm wäre zu wünschen, dass er die bedrohlichen Szenen ernst nimmt und auch darüber spricht. Vielleicht kann er sogar eigene Erfahrungen beisteuern, das würde seinen Überlegungen besondere Dringlichkeit verleihen. Schüchterne Ansätze dazu hat er bereits vor einiger Zeit gemacht. Als Minister könnte er mutiger werden.