Altern in der Pandemie

(Am 18.01.2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Viele meiner älteren Freunde erleben die nicht endende Pandemie als einen Bruch mit ihren bisherigen Plänen und Lebensvorstellungen. Das Alter hatten sie sich als eine ruhige Epoche ausgemalt und damit Ideen für ein entspanntes Leben verbunden. In Notfällen würde die eigene Familie aushelfen, so hatten manche sich das gedacht. Fernreisen standen auf der Wunschliste, auch längere Aufenthalte in der Fremde, der Nachholbedarf erschien groß, und nichts deutete darauf hin, dass er nicht befriedigt werden konnte.

In ihrem Klassiker über das Alter hat die Schriftstellerin Simone de Beauvoir zentrale Komponenten dieser Lebensphase untersucht. Die körperlichen Erfahrungen der Alternden hatte sie mit den psychischen einer anderen Zeiterfahrung verknüpft und daraus Strategien einer Alltagsbewältigung abgeleitet. In der Pandemie aber stehen alle diese Komponenten auf dem Prüfstand und müssen notgedrungen neu gedacht werden.

Der Körper erlebt keine normale Spät-, sondern eine extreme Angstphase, er kommt kaum noch zur Ruhe. Zeit zerfällt in eine sich wiederholende Folge von hilflos wirkenden Anläufen und Aktionen, um dem Virus nicht nur zu entgehen, sondern es nach bestem Wissen für längere Zeit außer Kraft zu setzen. All diese Aktionen bringen aber keine Ruhe, sondern vermehren sich ununterbrochen weiter, so dass man in kurzen Zeiträumen ganze Lebenspläne neu entwerfen und durchdenken muss: Wie weiter? Wohin? Mit anderen? Mit der Familie?

Die körperlichen Erfahrungen verbinden sich daher nicht mehr mit denen einer vorhersehbaren Zeit und münden nicht mehr in einen Alltag, der Stabilität und einen überschaubaren Verlauf bieten würde. Hinzu kommen die großen ökonomischen Ungewissheiten. Welche Branchen wird es nach der Pandemie noch geben, welche werden ganz neue Arbeitsfelder anbieten – und wird man die vielleicht notwendigen Umorientierungen mit den früher in Aussicht stehenden finanziellen Rücklagen auch schaffen?

Mit den vertrauten Altersstrukturen zerfallen auch die Traditionen der alten Familienverbände. Firmen, Betriebe und vertraute Berufe können oft nicht mehr  weitergeführt werden, sondern bedürfen veränderter Impulse und eines Umdenkens. Das wird nicht nur von jungen, sondern auch von älteren Menschen  in immensem Maß verlangt. Die Musik und die Gebote dazu liefert momentan die Ampelkoalition, die von den melancholischen Abschiedswalzern der Merkel-Ära auf digitale Kraftwerk-Rhythmen der Habeck-Future umgeschaltet hat.

„Die Pandemie hat mir mein Alter geraubt“, ist der Satz, den mein Freund Kurt alle paar Tage wiederholt. Selbst die früheren Ruhe- und Erholungszeiten in Brauhäusern wirken jetzt wie Phasen eines unruhigen Inseldaseins, während dem man lauter dunkle Stürme am Horizonz aufziehen sieht. Wann kommt die nächste Corona-Variante? Wer zahlt die riesigen staatlichen Schuldenberge?

Die Gegenwart hat etwas Gespenstisches, und die Gespenster sind die Geister der Pandemie, die immer mehrere Schritte voraus zu sein scheinen. Man holt sie nicht ein, und wenn man sich auf ihrer Höhe glaubt, tauchen sie anderswo wieder auf, begleitet von einem Vokabular, das sich aus dem Nichts drohend aufschraubt und alle Alarmglocken läutet: „Kritische Infrastruktur“ ist das neuste Droh- und Trendwort. Die Pandemie hat längst eine eigene Sprache entwickelt, die auf den Straßen von morgens bis abends gemurmelt wird: Heinz spielt sich jetzt als „Impfbotschafter“ auf, und Marion ist eine ausgewiesene „Impfdränglerin“, die schon Daten mit dem Hausarzt für die vierte Impfung vereinbart hat. Hier und da erregt das den Phantomschmerz eines „Impfneids“, den auch eine mögliche „Impfpflicht“ leider nicht beseitigen wird.