(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Ich kann mich nicht erinnern, jemals erlebt zu haben, dass meine Freunde so unterschiedlich wie jetzt auf gegenwärtige Weltereignisse reagierten. Seit Putins Kriegsbeginn haben sich die Lagerbildungen dramatisch verschärft und führen zu angedachten Konsequenzen, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Als lebten die Lager nicht mehr in derselben Welt, sondern orientierten sich in völlig verschiedene Richtungen, die sich gegenseitig ausschließen oder im Weg sind.
Die Lagerbildungen entstehen dadurch, dass jede Gruppe ein bestimmtes Segment der Gegenwart als dominante Vorlage für ihre Reaktionen nimmt. Der Krieg ist das erste, nächstliegende. Er hat viele meiner Freunde in eine Lähmung versetzt, die sich in einem dauernden Medien- und Nachrichtenkonsum niederschlägt. Den ganzen Tag über bleiben sie auf Sendung, folgen den aktuellen Mitteilungen und spüren angesichts der furchtbaren Kriegsbilder ihre Ohnmacht nur umso mehr.
Einige spenden Geld, andere unterschreiben Petitionen, demonstrieren oder schließen sich Hilfsorganisationen für Flüchtlinge an. Die älteren fühlen sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert, sprechen häufig darüber und tauchen in düstere traumatische Bildwelten ab. Das schlägt sich in vielerlei Lektüren nieder, solchen zur Geschichte der Ukraine, aber auch solchen über den Zweiten Weltkrieg und die Bombardierungen deutscher Städte. Die Mediengegenwart zieht die verdrängten Erlebnisse an und lässt sie nachts wieder aufleben.
Andere blicken weiter auf die aktuellen Corona-Daten. Ihr Kreis ist deutlich kleiner geworden, für manche ist die Pandemie trotz wieder steigender Infektionszahlen keine Bedrohung mehr. Sie bilden sich ein, im Fall einer Infektion mit einer Art Grippe davon zu kommen, und die wirklich Infizierten scheinen ihnen das zu bestätigen, weil kaum jemand offen von einer schweren Erkrankung berichtet.
Stattdessen ist man vor allem damit beschäftigt, wieder zum „normalen Leben“ früherer Tage zurückzufinden. Draußen essen, Veranstaltungen besuchen, gemeinsam etwas unternehmen – fast an jedem Tag wird neu vereinbart, wie man seinen Verlauf gestalten könnte. Das zieht andere Lektüren nach sich, nämlich solche über Programme der Lebenskunst, die jetzt auf dem Buchmarkt so gefragt sind wie noch nie. Dabei geht es um Entwürfe eines Lebens, das die Schocks der Pandemie aktiv verarbeitet und sich für die Zukunft neu rüstet: Was darf ich noch? Was kann ich vernachlässigen? Womit sollte ich mich intensiver als früher beschäftigen?
Das dritte Lager hat die bedrohlichen Szenarien des Klimawandelns nicht aus dem Auge verloren. Der Krieg hat sie in ein neues Licht gerückt, indem die Fragen nach der Herkunft unseres Energiebedarfs lauter geworden sind und mit Fragen nach der Zukunft von Kohle, Gas, Öl und erneuerbaren Energien verbunden wurden. Manche dieser Freunde haben ganz praktische Konsequenzen gezogen. Sie versuchen, sich in Kleingärten selbst zu versorgen, gründen Genossenschaften und kümmern sich um Projekte des Urban Farming. Auf einem Stück Land tätig sein und den Energiebedarf drosseln – das sind Projekte, die jetzt eine starke Anziehungskraft ausüben.
Schließlich gibt es aber auch Freunde, die an nichts anderes als baldigen Urlaub denken. Urlaub von allem, von Krieg, Pandemie und Klimawandel! Urlaub weit weg, möglichst auf sicheren, sonnigen Inseln, auf Mallorca oder Griechenland! Eine starke Fernbewegung ist im Gang, stärker noch als vor den Pandemiezeiten. Sie zieht meist nur eine einzige Konsequenz: vergessen, wegdriften, den Kopf in einen Fantasiemodus schalten, der dem von Fernsehfilmen mit gutem Ausgang ähnelt. Krisen sind dort flüchtige Erscheinungen, die man nicht ganz ernst nehmen muss. Sie gehören zum „Gang der Dinge“, und an ihrem Ende wartet immer „ein neuer Tag“.
Wo hat man das schon seit ewigen Zeiten gehört? Richtig, im Schlager. Ist das der Grund, warum er gerade jetzt einen so erstaunlichen Aufschwung nimmt?