Das Ende der Verblendung

(Am 12.4. auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

All jene unter meinen Freunden, die sich noch genau an die Nachkriegszeiten erinnern und aus deren Erfahrung früher einmal ihre Zukunftsvisionen ableiteten, sind seit dem Beginn des Ukraine-Krieges laufend damit beschäftigt, ihre Lebensgeschichten zu sichten und neu zu befragen: Warum hat mich die Kriegspolitik Putins so überrascht, warum war ich nicht wach und aufmerksam genug und warum bewege ich mich jetzt wie gelähmt und hilflos, ohne eine Antwort auf mein Versagen und meine Ignoranz zu finden?

In unseren aufgewühlten Unterhaltungen spielt eine große Rolle, dass die geopolitischen Vorstellungen der meisten Freunde von der Annäherung der Westmächte nach dem Krieg geprägt sind. Erschien die Versöhnung zwischen den früheren „Erzfeinden“ Frankreich und Deutschland nicht wie ein welthistorisches Signal für einen dauerhaften Frieden? Und verstärkte die allmähliche Entstehung der EU und der NATO nicht die Vermutung, dass die Kriegszeiten wahrhaftig endgültig vorbei seien und die Völker und Staaten des Westens Mittel und Wege gefunden hatten, miteinander auszukommen und zu leben?

Die fünfziger und sechziger Jahre waren in diesem Sinn Jahre einer Friedensarchitektur, die eine fortschreitende Annäherung der westlichen Länder mit nachhaltigen Handelsverbindungen verknüpfte und dadurch glauben machte, der militärische Frieden habe eine starke Basis im wirtschaftlichen Fortschritt.

Diese positiven Friedenserfahrungen erhielten in den siebziger und achtziger Jahren ihre Ergänzung durch die Ostpolitik, das Ende der DDR, den Zerfall der Sowjetunion, die Verträge mit Polen und die Ausweitung der EU. Die Freunde sahen sich damals in ihrer Einschätzung bestärkt, dass die Methoden der Friedenssicherung im Westen auf den Osten übertragen werden und dort zu ähnlichen Erfolgen führen könnten. Anfang der neunziger Jahre leuchtete die Idee eines „Gemeinsamen Haus Europa“ (Gorbatschow) so stark wie nie, die Nachkriegszeit erschien endgültig beendet. Als die Kriegsmanöver im zerfallenden Jugoslawien begannen, wurden sie noch lange als Störmanöver, aber nicht als erste Anzeichen von aggressiven Brüchen einer auf dauerhaften Frieden setzenden Europapolitik begriffen.

Die Strategien der Friedenssicherung erschienen vielmehr weiter durch die Nachkriegsverhandlungen vorgegeben: Verträge schließen, die Annäherung der Völker so umfassend wie möglich in allen Bereichen betreiben und einen diplomatischen Verkehr in Bewegung halten, der mit einem Auge das politisch Mögliche verfolgt und mit dem anderen die Belohnung durch wirtschaftliches Wachstum im Blick behält. So sah man in den russischen Gesprächspartnern weiter nahe Bekannte oder sogar Freunde, mit denen sich alles jederzeit regeln lassen würde. Die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft erschien als zusätzliches Vertrauensangebot. Wer konnte noch damit rechnen, dass Waren, Güter und Verkehrsströme der aggressiven Durchsetzung machtpolitischer Interessen dienen würden?

Erst mit Beginn des Ukraine-Krieges erschienen die russischen Politiker wie nicht mehr ansprechbare Figuren von gestern, die der Nachkriegspolitik der friedensorientierten Zeitsprünge nicht gefolgt waren, sondern sich weiter in den alten ideologischen Bunkern verschanzt hatten. Am langen Tisch saßen die westlichen Regierungschefs in weiter Entfernung einem Diktator gegenüber, der gar nicht mehr auf Gespräche und Verhandlungen bedacht war, sondern seinen Truppen längst Kriegsbefehle erteilt hatte.

Die große Blendung – sie hatte im Westen ihre Hauptursachen darin, dass West- und Ostpolitiken jahrzehntelang so überzeugend und beinahe betörend gewirkt hatten, dass die realen Zeugnisse von Gewalt, Abschottung und Despotismus nicht als große Gefahren wahrgenommen wurden. Mit dem Ende der Verblendung erscheint das Nachdenken über die Nachkriegszeit wieder aktuell. Es bleibt nichts übrig, als den alten Glanz der Verständigungen zu polieren und darauf zu hoffen, dass durch den Westen der Ruck einer neuen Wachsamkeit geht, der sich nicht mehr auf Illusionen verlässt.