Das Kuriosum der Ur-Heimat

Herr Ortheil, wo ist Ihre Heimat?

Ich habe eine Ur-Heimat, die befindet sich in dem westerwäldischen Ort Wissen/Sieg, in dem meine Großeltern und Eltern gelebt haben und später auch gestorben sind.

Die Häuser und Lebensräume meiner Ahnen und Urahnen bestehen alle noch und werden heutzutage von meinen Verwandten (Cousinen, Vettern etc.) bewohnt. Wenn ich mich in  den Biergarten meines Vetters setze, der neben dem Gasthof meiner väterlichen Großeltern liegt, setze ich mich an einen Ort, der bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht und fast unverändert ist. Die schönen Linden hat mein Großvater pflanzen lassen, das Landbrot mit feinem Schinken stand schon auf der Speisekarte von 1910.

Sie leben aber doch auch in Stuttgart und in Köln, ist das richtig?

Ich lebe etwa die Hälfte eines Jahres in der Ur-Heimat – in meinem in den fünfziger Jahren von meinen Eltern erbauten Elternhaus. Damit verbinde ich noch immer die stärksten Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Wenn ich an einem größeren Projekt arbeite, ziehe ich mich dorthin zurück, gehe viel spazieren und schwimmen und genieße die ländliche Ruhe der Höhenzüge des Westerwaldes.

In Köln habe ich eine kleine Wohnung, die ich zusammen mit anderen Bewohnern nutze. Köln ist die Großstadt meiner Kindheit, etwa eine Stunde Zugfahrt von der Ur-Heimat entfernt. Beide Welten stehen aber in engem Kontakt, auch in Köln kann ich sehr gut arbeiten und denken, nur anders als im Westerwald – schneller, gegenwärtiger, was dann meist zu aktuellen, journalistischen Texten führt, von denen viele im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erscheinen.

In Stuttgart schließlich lebe ich in einem großen Gartengelände, das war und ist der Versuch einer Zweiten, Neuen Heimat – ein Anlauf, der sich aus familiären Konstellationen ergab. Stuttgart ist die Stadt, die ich seit vierzig Jahren durchlaufe und umkreise: eine Stadt ohne Kindheitserinnerungen, ein Studium der Fremde, die ich mir in Bruchstücken aneigne. Letztlich ist es ein Experiment der Beheimatung.

Gibt es eine Musik, die sie mit der Ur-Heimat verbinden?

Ja, das kleine Stück Kind im Einschlummern aus den Kinderszenen von Robert Schumann. Etwas mehr als zwei Minuten. Da ist alles drin: Das einsetzende Abdriften in die Fantasiewelten des Traums, das letzte Verweilen in den Tagesbildern, das Tröstliche beim Abschiednehmen von den vitaleren Lebenswelten – also das ganze heimatliche Bei-sich-Sein.

So ein Juwel konnte nur Robert Schumann komponieren, niemand sonst.