(Am 9.6.2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Mehr als hundert Tage nach Beginn des Ukraine-Krieges scheint die Vorstellungskraft vieler meiner Freunde allmählich zu erlahmen. Die täglichen TV-Reportagen erreichen sie nicht mehr so aufwühlend wie früher, und die hierzulande geführten Debatten über Rüstungslieferungen erscheinen wie politische Ersatz- oder Scheingefechte, deren Rhetorik mit keinerlei real erscheinenden Anschauungen verbunden ist.
Dennoch ist der Krieg noch immer allgegenwärtig und legt sich mitsamt der Nachrichten und Bilder wie ein nicht fassbares Zweitleben auf den gegenwärtigen Alltag. Das führt zu viel Innehalten und laufend gestellten Fragen danach, welche Reaktionen und Antworten für den Einzelnen möglich und angemessen sind.
Einige Freunde rühren sich nicht mehr vom Fleck und verfolgen den Krieg wie gelähmt, als wollten sie erst wieder planen, wenn er vorüber ist. Andere engagieren sich in Hilfskomitees und fühlen sich dann meist konkreter mit den Ereignissen verbunden. Sie unterstützen Flüchtlinge, unterrichten Kinder und Jugendliche oder vermitteln ukrainischen Familien Arbeit und Unterkunft.
Die Potenzen der Vorstellungskraft werden trotz alledem schwächer, weil die möglichen Absichten und Strategien der russischen Seite längst nicht mehr zugänglich oder gar begreifbar erscheinen. Ein Freund erzählte mir, dass die seit Kriegsbeginn gezeigten Bilder Putins, der wie ein einsamer Akteur in seinen menschenleeren Rückzugsräumen nur noch auf Fragen dienstbarer Journalisten antwortet, ihn an James Bond-Filme der frühen sechziger Jahre erinnern. Dort gab es (wie etwa in der Gestalt des Dr. No) den fanatischen Einsamen auf einer Insel, der über Atomwaffen verfügte und sich dafür rächen wollte, dass man seine Ideen nicht angemessen gewürdigt und anerkannt hatte.
Eine ähnlich absurde und früher für verrückt gehaltene Konstellation erscheint nun wieder, als verwirklichten sich jetzt Fantasien, die man einmal für bloße Wahnvorstellungen und lediglich für einen Stoff von Filmdrehbüchern gehalten hatte. Dass sie von russischer Seite aus realisiert werden, ist mit den Mitteln althergebrachter Vernunft nicht zu verstehen. Alle Erklärungen aus dem Zentrum des Aggressors, ausschließlich von ihm selbst vorgetragen, ignorieren vielmehr den Anspruch an ein aufgeklärtes Denken, das sich einmal auf jederzeit möglich erscheinende Verständigungsformen in Konfliktfällen verlassen hat.
Inzwischen aber ist die Verrücktheit schon soweit gediehen, dass es solchen Gesprächen an den notwendigsten Grundlagen fehlt. Wie soll man mit Menschen verhandeln, die nicht nur ein anderes Weltbild, sondern sogar – viel diffuser und gefährlicher – eine ganz andere Vorstellung vom Realen haben? Putins Erzählungen sind Dr. No-Monologe, die nicht die geringsten Ansatzpunkte für so etwas wie Dialoge hergeben. Die Atmosphären, denen solche Monologe entstammen, wirken nicht zufällig kalt und erstarrt, als wären sie künstlich.
All das hinterlässt den gegenwärtigen Eindruck eines kaum noch auflösbaren Stillstands, der immer mehr wie ein Perpetuum mobile des Krieges erscheint. Zerstörte Städte und Landschaften, Tausende von Toten, Millionen von Flüchtlingen bilden den furchtbaren Realitätsgehalt solcher Eindrücke, die von keinen denkbaren Lösungsideen mehr begleitet werden. Genau das führt zu der latenten Verzweiflung, die viele meiner Freunde gegenwärtig spüren. Die Vorstellungskräfte drohen zu versiegen, und kein Geheimagent ist in Sicht oder denkbar, der den einsamen Aggressor auf seiner Insel noch erreichen könnte.