Am frühen Morgen hörte ich davon, dass heute der Tag des Kusses gefeiert wird. Das erinnerte mich an meine Erzählung Der Kussteufel , die Mitte Oktober in meinem Buch Charaktere in meiner Nähe (Reclam-Verlag) erscheinen wird:
Der Kussteufel erfährt die Welt über seine hoch empfindlichen Lippen, mit denen er alles berührt, was ihn besonders anzieht.
Geht er auf den Wochenmarkt, kann er den Blick nicht vom ausgelegten Obst und Gemüse abwenden. Er lässt sich die schönsten Äpfel und Pfirsiche reichen und tut so, als rieche er an ihnen. Dabei küsst er sie flüchtig, um ihre Haut und ihren Pelz zu spüren.
Obst und Gemüse, das ihn begeistert, nimmt er in wenigen Exemplaren mit nach Hause. Unterwegs bleibt er hier und da stehen, greift nach einer Pflaume oder einer Birne, lässt die Lippen auf ihrer Schale kreisen und beißt schließlich genießerisch wie ein Vampir heftig zu.
Ist er in der Stadt unterwegs, vibrieren seine empfänglichen Lippen im Rhythmus seiner Schritte. Immer wieder verlässt die Zunge die Mundhöhle und sondiert den Lippenbefall nach allem, was die Atmosphären bereit halten.
Süßes, Saures, Scharfes, Bitteres, Metallisches – er könnte wie kein anderer davon erzählen, was Straßen, Häuser und Menschen ihm an flüchtigen Nährstoffen bieten.
Im Kino schließt er angewidert die Augen, wenn Paare sich küssen: „Sie können es einfach nicht, sie verstehen vom Küssen nicht das Geringste.“
Fragt man ihn, ob er jemals bereit gewesen wäre, in einem Spielfilm mitzuwirken, um durch einen Kuss zu glänzen, antwortet er vielsagend: „Michèle Morgan hätte ich mir als Partnerin vorstellen können, in den späten dreißiger Jahren, in Hafen im Nebel…“
Freundinnen und Freunde begrüßt er auf der Straße nie mit einem Kuss: „Ein Kuss ist das Schönste und Innigste, das es gibt. Um zu küssen, bedarf es einer eigenen Aura, in Wald und Wiese, auf dem Wasser, am besten draußen im Freien, dort, wo zwei Menschen wirklich einmal allein sind.“
Soll er vom Geheimnis des Küssens sprechen, bleibt er ungenau und besteht darauf, dass es ein Geheimnis sei. Immerhin soll er aber einmal preisgegeben haben, dass die Hirnmoleküle während des Kusses angeblich frei zu tanzen beginnen, vor lauter Freude und keineswegs vor billiger Lust.
Bedrängt man ihn weiter, spricht er davon, dass Küssen etwas Hocherotisches sei: „Sexualität ist banaler Körpersport, ein Kuss dagegen ist Mozart, ein Hauch von Cherubino oder, mit anderen Worten: Triebfreie Wollust…“