(Am 12. Juli 2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
„Inter arma silent musae“ („Während des Krieges schweigen die Musen“) ist ein bedenkenswerter Satz, den der Berliner Kunsthistoriker Wilhelm von Bode während des Ersten Weltkriegs in Abwandlung eines Cicero-Satzes („Inter arma silent leges“) erfand.
Jetzt, im Verlauf des Ukraine-Krieges, bewahrheitet er sich in mancherlei Hinsicht. Viele Autorinnen und Autoren der Ukraine schreiben nämlich nicht weiter an ihren literarischen Texten, sondern verlegen sich häufig auf journalistische. Während sie in früheren Zeiten noch Erzählungen, Romane, Dramen oder Gedichte schrieben, arbeiten sie jetzt an Blog-Einträgen, Artikeln oder Tagebuch-Notaten.
Dass die Musen in kriegerischen Zeiten schweigen, folgt aus der besonderen, animierenden Wirkung, die man den neun Musen in der Antike zusprach. Sie waren die Göttinnen, die den Künsten zugeordnet waren und zu ihrem Schutz beitrugen. Sie stimulierten Lyrik, Tanz oder Drama und personifizierten deren öffentliche Präsenz. Der Krieg nimmt ihnen die Kraft und lässt sie verstummen – diese resignierte Einsicht steckt hinter dem Satz Wilhelm von Bodes.
Blogs, Artikel und Tagebücher ukrainischer Autorinnen und Autoren sind derweil eine nicht mehr fortzudenkende, wichtige Quelle unserer fernen Blicke auf die Kriegsereignisse. Manche dieser Texte las ich in letzter Zeit meiner bald neunzigjährigen Nachbarin vor, die sich TV-Bilder der getöteten Menschen und der zerstörten Städte nicht mehr anschauen mag. Dabei erfuhr ich viel über die besondere Wirkung dieser Texte, weil sie Erinnerungen und Bilder an die weit zurückliegenden Kriegsereignisse hier in Deutschland abriefen. Wovon wird erzählt, was wird durch diese Texte deutlicher als durch alle TV-Bilder?
Im Ukrainischen Tagebuch der Autorin Oxana Matiychuk zum Beispiel geht es um alle nur denkbaren Facetten des Alltags im Krieg. In ihrem Heimatort Czernowitz treffen Flüchtlinge ein. Wo bringt man sie unter, wo beschafft man die notwendigsten Dinge, angefangen von Küchengeräten über Spielsachen für die Kinder bis zu Tierfutter für eine Katze? Nichts ist mehr selbstverständlich, die Lebenskreise des früheren Alltagslebens sind schwer gestört und laufend geht es darum, das Leben neu zu improvisieren, den Lebensmut zu erhalten und manchmal sogar (wenn auch nur für die Kinder) so etwas wie momentane Lebensfreude zu ermöglichen.
Genau diese Erlebnisse sind es, die meiner älteren Nachbarin vertraut erscheinen. Im Alltag des Krieges wirken die Lebensäußerungen stark gedämpft und punktuell. Die Erfahrung von Zeit ist eine der kurzen Augenblicke, in denen sich ungeplante Bewährungen abspielen, die trotz großen Einfallsreichtums keinen dauerhaften Halt versprechen. Die Menschen sind aufeinander angewiesen und rücken enger zusammen denn je. Hilfsbereitschaft und Verständnis sind oberste Tugenden, die keiner verordnen muss, sondern die sich von selbst ergeben.
Deutlicher wird die Wertschätzung auch kleiner Dinge und unscheinbarster Handlungen. Wohnungen, Möbel, Gegenstände erscheinen nicht mehr als privater Besitz, sondern als Angebot, von dem viele Menschen Gebrauch machen. Notgedrungen entwickelt das Leben frische Ketten sozialer Bindungen, über die auch die Geschichten vom Krieg Nahrung erhalten. Nachrichten, Telefonate und Erzählungen lassen den Stromkreis eines Erzählens entstehen, das jede einzelne Mitteilung auf den Prüfstand legt, abklopft und die möglichen Konsequenzen bedenkt.
Die gegenseitige Nähe, die forschende Umsicht und das nicht aufhörende Sprechen der Menschen – sie sind die Voraussetzungen dafür, dass auch nach diesem Krieg die Musen sich wieder rühren werden. Langsam und allmählich wird das Erlebte und Erzählte zu ihrem Stoff werden, und wir werden von dem lesen und das empfinden, was wir durch keine TV-Bilder erfahren haben.