Vom Erzählen

Ein Leben lang hat sich der Kulturwissenschaftler und Volkskundler Hermann Bausinger, der im vergangenen Herbst im Alter von 95 Jahren gestorben ist, mit Themen der Alltagskultur und der Erzählforschung beschäftigt. Sein letztes Werk, das gerade erschienen ist, zielt noch einmal genau in diese weiten Ländereien und hat den Titel Vom Erzählen. Poesie des Alltags (Hirzel Verlag, Stuttgart).

Bausinger denkt zunächst nicht an das literarische Erzählen und damit an ein Gegenüber von Erzähler/Erzählerin und Zuhörerschaft, sondern an ein Erzählen in kleinem Kreis oder kleiner Runde, das spontan und ohne große Vorbereitung in den verschiedensten Alltagssituationen entstehen kann. Beim Warten auf einen Bus, beim Fahren in der Bahn, beim gemeinsamen Spaziergang.

Bausinger untersucht die dabei entstehenden alltäglichen Erzählformate in drei Schritten: 1) Indem er bestimmte Lebenskonstellationen beschreibt, in denen Erzählungen gut entstehen und wachsen, 2) Indem er die Erzählformen untersucht, die im Laufe der Jahrhunderte zu festen Hilfsmitteln des Erzählens geworden sind, 3) Indem er sprachlich-stilistische Pointen des Alltags im Blick auf ihren Witz oder Humor erläutert und zeigt, wie sie das Erzählen bereichern.

Das gut lesbare und an ergiebigen Beispielen reiche Buch ist eine Art Elementarlehre eines nicht angestrengten, sondern geselligen Erzählens, dem man viele Nachahmer wünscht. Manchmal stellt man sich die Frage, ob es dieses Erzählen (das sich Zeit lässt, das auf einen Gegenüber lauscht und ihm nicht über den Mund fährt, das ein Vergnügen an kuriosen Einfällen und Formulierungen hat) noch im früheren Sinn gibt.

Und manchmal denkt man, dass dieses Erzählen in Deutschland nicht viele begeisterte Adepten hat, weil hierzulande vieles auf Effizienz, Zeitnutzung und Verwertbarkeit ankommt. (Ist das in südlichen Ländern noch anders? Ist das alltägliche Erzählen mit seiner Bindung an kulturelle Rituale der Begegnung nicht geradezu eine Erfindung des Südens? Ist die Passeggiata an einem sonnigen Abend auf den Straßen eines Ortes nicht eine der vielen idealen Voraussetzungen für dieses Erzählen wie zum Beispiel auch das Einkaufen auf einem Markt oder die Unterhaltung nach einem Kirchenbesuch?)

Bausinger umkreist ein den Menschen, Dingen und der Natur nahes Erzählen, das Umgebung und Raum im Blick hat und nicht gleich wieder dem neusten und angesagtesten Trend hinterherläuft. In Vom Erzählen hat er ein Buch hinterlassen, das wie ein Testament erscheint.