(Am 1.10.2022 auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger, S.4)
In diesen Tagen nach dem Begräbnis der Queen habe ich oft versucht, mich an Sätze oder Texte von ihr zu erinnern, die in Erinnerung geblieben wären. Je länger ich überlegte, umso deutlicher bemerkte ich, dass und warum es solche Texte nicht gab. Die Queen war im wahrsten Sinn eine Ikone gewesen, ein Porträtbild vor monochromem Grund, leuchtend durch ihre dezidiert bunte, auffallende Kleidung, erstarrt in der bekannt wirkenden Gestik von Lächeln, Winken, Grüßen und Small talk.
Interviews hat sie keine gegeben, aber auch sonst stößt man nicht auf Texte, in denen sie etwas von ihren Ansichten oder ihren Gefühlen preisgegeben hätte. Ihre Reden schrieben andere, und private Äußerungen sind höchstens als spärliche Zitate in Anekdoten vorhanden, einer Kunst, in deren Ausübung sie von ihrem Mann, Prinz Philip, weit übertroffen wurde.
Mitten im digitalen Zeitalter, in der die Menschen geradezu danach gieren, sich in den verschiedensten Medien und Formaten zu äußern, ist die individuelle Sprache der Queen eine erstaunliche textuelle Leerstelle geblieben. Stattdessen setzte sie auf die körperliche Präsenz, den Auftritt, und auf theatralisch erscheinende Formen der visuellen Präsentation. Solche Selbstbeschränkung lockte Fotografen und Filmregisseure an, denen keine textuellen Felder oder Hürden im Weg standen. Die Wege zur Queen waren so schlicht geebnet wie die schnurgerade Mall, die sie zuletzt zurücklegte: Keine Umwege, das Volk auf Distanz, in geordneten, stillen Reihen an beiden Seiten.
Umso deutlicher erinnere ich mich aber an eine hinreißende Erzählung des britischen Schriftstellers Alan Bennett. In Die souveräne Leserin lässt er die Queen unvorbereitet und zufällig auf einen Bücherbus der Bezirksbibliothek von Westminster treffen, der in einem Gartenstück ihres Palastes im Abseits geparkt hat. Die Queen reagiert freundlich und nichtssagend, so, wie wir sie kennen. Sie unterhält sich mit dem Fahrer und dem Entleiher der Bücher, und sie scheint mit diesem gnadenlosen Small talk ganz auf der Spur ihrer sonstigen kurzen Wege zu bleiben. Aus lauter Freundlichkeit entschliesst sie sich, ein Buch auszuleihen und es mit nach Hause zu nehmen.
Diese Ausleihe ist die textuelle Infektion, die Bennett als Schriftsteller der Queen zumutet. Denn von diesem Moment an kann sie nicht mehr aufhören zu lesen, und wenn der Herzog von Edinburgh nachts mit einer Wärmflasche durch die Gänge schleicht, hört er sie im Schlafzimmer manchmal während ihrer Lektüren lachen: „Alles in Ordnung, altes Mädchen?“
Nein, nichts ist mehr in Ordnung, denn die Queen hat nicht angefangen, dann und wann ein wenig zu lesen. Benett macht aus ihr vielmehr eine souveräne Leserin, die eigene Vorlieben für Texte und geheime Textleidenschaften mit einem unverwechselbaren Profil entwickelt. Die Früchte dieses Entwicklungsromans kostet Benett dreist und unverfroren aus, wenn er etwa den französischen Präsidenten während eines Staatsbanketts neben der Queen Platz nehmen lässt. Sie will, ganz „unter uns“, viel und Genaues über den französischen Schriftsteller Jean Genet wissen. Der interessiert mich, sagt die Queen, und der Präsident lässt den Löffel vor lauter hilflosem Erstaunen sinken.
„Jene, die dienen, werden geliebt und in Erinnerung bleiben“, hat der Erzbischof von Canterbury in seiner Predigt während des Trauergottesdienstes gesagt. Das trifft die Präsenz der Queen als einer Frau, die auf alle sich anbietenden Möglichkeiten von aufdringlicher Selbstdarstellung mit äußerster Zurückhaltung reagierte, bis hin zur Sprachlosigkeit. „Jener, der sie zur starken Figur einer starken Erzählung machte, wird ebenso geliebt und in Erinnerung bleiben“, hätte der Erzbischof mit dem Blick auf Alan Bennett hinzufügen können. Womit er die literarische Kehrseite eines Mirakels benannt hätte, die zur Unsterblichkeit der Queen auf ihre Weise mit beitragen wird.