Ein Redakteur der „Herder Korrespondenz“ hatte mich seit langem gebeten, für seine Zeitschrift einen kurzen Text über „Gott“ zu schreiben.
Ich bin auf das Angebot länger nicht eingegangen, habe jetzt aber doch eine Art biografischer Erzählfolge in vierzehn Kapiteln geschrieben, die nun auch in der „Herder Korrespondenz“ erschienen ist. Da es sich um meditative Stationen handelt, sollte man den Text nicht rasch „herunterlesen“, sondern in seinen Segmenten studieren und wirken lassen.
Ich veröffentliche ihn in dem heutigen Blogeintrag aus Anlass des Reformationstages und des morgigen Festes „Allerheiligen“.
1
GOTT ist im Alter von siebzig Jahren für mich keine feste Größe mehr. In den Anfängen meines katholischen Daseins war das anders. Da war GOTT eine Gestalt des Glaubensbekenntnisses und entsprechend zu erleben, als der allmächtige Vater, der Schöpfer des Himmels und der Erde.
2
Als eine solche Gestalt erschien er in der Apsis der Dorfkirche meines westerwäldischen Heimatortes Wissen an der Sieg, gemalt von dem Kölner Dommaler Peter Hecker: GOTT, mit grauem, wallendem Bart, war nicht nur der Herrscher über Himmel und Erde, sondern auch die zentrale, einzigartige Gestalt der katholischen Lehre, auf die alles bezogen war.
3
Ohne diesen GOTT gab es keinen Glauben, und der Glaube bestand darin, über diesen GOTT vieles zu wissen. Er war nicht nur mächtig, sondern auch gütig und hilfsbereit, ein GOTT des Erbarmens und der Liebe, von vornherein und für alle Zeiten: grenzenlos.
4
Als Person war er in dem geschilderten Sinn so lange vorstellbar, wie die kindliche Naivität anhielt. Als ich erwachsen wurde, erstaunte es mich, dass selbst ältere Menschen weiter von dieser Naivität zehrten und so taten, als wüssten sie immer und jederzeit über GOTT Bescheid.
5
In den Gottesdiensten nahm das Bescheidwissen merkwürdige Formen an, GOTT wurde zu einer Figur, die für alles und jedes zuständig und jederzeit nahe war. Die Gläubigen, die von ihm sprachen, schienen sich täglich mit ihm zu unterhalten und auszutauschen, und es war nicht zu überhören, dass sie die Nichtgläubigen für bemitleidenswerte Geschöpfe hielten, die den Draht nach oben verloren hatten und deshalb nicht mehr gehört wurden.
6
Je schwächer diese mir immer peinlicher erscheinende Selbstgewissheit des Glaubens wurde, umso mehr blendete ich den allmächtigen Vater aus und orientierte mich an seinem Sohn, der als Person und historische Figur mitsamt der vielen Zeugnisse von Weggefährten oder Nachahmern greifbarer war.
7
Im Blick auf die Jesusgestalt entdeckte ich den GOTT, an den Jesus sich hielt. Auch er war ein Vater, aber anscheinend keiner, an dem man sich jederzeit orientieren konnte und dessen Beschlüsse man immer schon kannte. Jesus sprach mit seinem GOTT, er ließ ihn als Person und Gestalt für sein eigenes Sohnesleben entstehen, Schritt für Schritt und mit einigem Zögern und Nachdenken.
8
In dieser Form war Christi Leben das Leben einer GOTT-Inspiration, die mal stärker, mal schwächer war. In dem beeindruckendsten Moment seines Lebens, dem seines Sterbens, ging sie sogar bis zu der Frage, ob GOTT einen Menschen, der von ihm inspiriert ist, auch verlassen könne.
9
Im Gefolge dieser GOTT-Auslegung, die Jesus gelebt und vorgeführt hatte, interessierten mich viele Lebensgeschichten der Märtyrer und Heiligen. Welche Vorstellungen hatten sie von GOTT, wie prägten diese Fantasien und Ideen ihre Existenzen und machten sie zu Erzählungen von weiterführenden Fragen und Antworten?
10
In Momenten großer Not oder Verzweiflung erschien mir GOTT wider besseres Wissen als eine Zuflucht. Ich betete zu ihm und glaubte, dass er mir nahe sein müsse, weil er solche Not und Verzweiflung nicht unbehandelt lassen könne.
11
Starken Zuspruch erhielt ich durch verschiedene Kompositionen großer Musik. Manche löschten mein Grübeln auf eine Weise aus, dass ich GOTT näher denn je war. Beim Hören von Bachs Passionen, von Mozarts Konzerten oder Beethovens Sonaten war das oft so.
12
Wenn ich Schumanns Klaviermusik hörte, dachte ich manchmal sogar, sie sei in einer Familienzelle entstanden, die mit meiner eigenen verwandt und bei deren Zusammenkommen GOTT ganz selbstverständlich mit anwesend war, als eine universelle Begleitung, die aus Menschen zuhörende Kinder machte. Dann hörte auch GOTT zu, selbst zum Kind geworden, aber nicht zu dem in der Krippe, sondern zu dem im Tempel, das zuhörte, fragte und antwortete.
13
Es gab Tage, an denen ich ein bestimmtes Kloster während eines langen Spaziergangs umrundete und über vieles nachdachte, was in den Wochen zuvor geschehen war. Nach einem solchen Gang hörte ich in der Abteikirche den gregorianischen Gesang der Mönche. Sie waren ganz unter sich, sie brauchten mich nicht und taten mir durch keinerlei Predigen irgendeinen Zwang an. In ihrem Gesang war ich bei ihnen und sie bei mir. Manchmal gelang es mir in solchen Stunden sogar, ohne GOTT auszukommen. Ganz unerwartet, aber wahrhaftig.
14
Das vielleicht Schönste, was ich über GOTT sagen kann, ist, dass ich einige Menschen kenne und liebe, die er inspiriert haben muss. Sie haben keinerlei Böses, und sie begegnen anderen Menschen mit einer Liebenswürdigkeit, die überwältigend ist. Ein solcher Mensch bin ich nicht, aber, wie gesagt, ich kenne und liebe einige solcher Menschen. Es gibt sie – und das zu sagen, ist mehr als das, was ich über GOTT sagen kann.