Ich bin ein Fan und schau nicht hin

(Am 15.11.2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

In den späten fünfziger Jahren habe ich eine Zeitlang in Wuppertal gelebt. In der Nähe unserer Wohnung gab es auf einer bewaldeten Anhöhe den sogenannten „Freudenberg“. Er bestand aus zwei Fußballplätzen, auf denen während der Woche auch die Spieler des Wuppertaler SV trainierten. Fast jeden Tag lief ich mit meinen Freunden dorthin zum Fußballspielen. Schließlich wurde ich Mitglied einer Jugendmannschaft des WSV und spielte Woche für Woche gegen einen anderen Gegner.

Aus diesen Kinderjahren datiert meine Fußballbegeisterung. Noch heute gehört sie fast ausschließlich dem Wuppertaler SV. Wenn sie mich wieder mal packt, fahre ich mit dem Zug nach Wuppertal und steige in die Schwebebahn zum Stadion am Zoo, um mir ein Spiel anzuschauen.

Ich bin also ein Fan, kein Fussballfan schlechthin, sondern der treue, jahrzehntelange Fan eines Vereins, der heute in der 4. Liga spielt und früher einmal viel bessere Tage erlebt hat.

Die Spiele des WSV verfolge ich aus der Nähe und Ferne angespannt, mit starker Anteilnahme. Andere Fußballspiele interessieren mich kaum, ich mag keine Spiele sehen, in denen überbezahlte Spieler ihren Marktwert steigern. So geht es auch vielen meiner Kölner Freunde. Sie gehen zu Spielen von Viktoria oder Fortuna Köln, da fiebern sie mit. Fussball kann sehr langweilig sein, wenn der innere Fanmotor nicht aktiv und man zum blossen Schauen und Gucken verurteilt ist. Dann ziehen sich die 90 Minuten wie sonst nur beim „Tatort“.

Im Fandasein dagegen wird der eigene Lebensraum aktiviert und zum Schicksal. Einmal Fan, immer Fan, bezogen auf einen Raum, als dessen Vertreter und Teilhaber man sich durch Schal oder Trikot ausweist und bekennt. Das Fanleben ist eine endlose Fortsetzungsgeschichte. Während der Woche bereitet man sich auf das Spiel am Wochenende vor, diskutiert die Aufstellung, checkt den Wetterbericht und tippt das Ergebnis, auf der Grundlage aller verfügbaren Meldungen, die man Tag für Tag gesammelt hat.

So lässt die Verbindung zum auserwählten Verein niemals nach. Kein Tabellenstand vermag die dauerhaft brodelnde Liebe zu erschüttern. Sie artikuliert sich durch Lieder, Gesänge, Anekdoten und Geschichten, die das Leben der Trainer und Spieler umkreisen und den Fan zu einem Eingeweihten machen, der noch in den Katakomben und Umkleidekabinen trotz scheinbarer Ferne immer dabei ist.

Wie meine Freunde werde auch ich die Spiele der WM in Katar nicht anschauen. Die FIFA weiß vom Leben der Fans nämlich nichts. Ihr ist sogar das Leben all der Tausende egal, die während der Arbeit an den monströsen Stadien gestorben sind. Auch aus Gründen des Menschenrechts ist die Vergabe der WM nach Katar nichts als ein Skandal und sollte all die beschämen, die daran beteiligt waren.

Wie man die Spiele dort lächelnd kommentieren mag, kann ich mir nicht vorstellen. Welchen Fan soll interessieren, ob Götze oder Musiala spielt, ja,  wer möchte darüber angesichts des abstoßenden Wissens um die Hintergründe überhaupt noch mit Begeisterung reden? Selbst die klassischen Fandebatten um das Für und Wider von Aufstellung und Taktik wirken abgeschmackt und verfehlt.

Während der WM werde ich nach Wuppertal fahren, ins Stadion am Zoo, um dort meine Vereinsfahne zu schwenken. Im leeren Stadion hört man von gleich nebenan das Trompeten der Elefanten. Wenigstens die wissen noch lautstark zu protestieren.