Die Ordnungen der Ewigkeit

Eine Zeitlang habe ich in meinen Jugendjahren das tägliche Klavierüben immer mit einigen Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier begonnen. Bis heute kenne ich keinen Klavierzyklus, der mehr zu einer hingebungsvollen, alle störenden Bilder vertreibenden Konzentration bewegt.

Diese Musik kreist derart in ihren eigenen Bezügen, dass sie alle anderen Assoziationen vertreibt. Sie singt und fließt nicht, sie kokettiert nicht und schaut nirgends mit Seitenblicken ins Abseits, sie spricht, genau und ausformuliert, charakterstark.

Vor dem sonstigen Üben war dieses Bach-Spielen ein Einspielen: Mit den ersten Tönen betrat ich die Ordnungen der Musik, die mir so erschienen, als wären sie für die Ewigkeit konzipiert, unveränderbar und zeitlos gültig.

Letztlich folgte ich einer Empfehlung Robert Schumanns, der seine Klavierschüler angehalten hatte, das Wohltemperierte Klavier täglich zu üben: „Das Wohltemperierte Klavier sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiß ein guter Musiker.“

Die 48 Präludien und Fugen erlebte ich damals nie in Konzerten, auch nicht in Auszügen. Sie erschienen wir eine eigene, ferne Welt, die Auftritte in Konzertsälen banalisiert hätten. Man spielte sie nicht vor Publikum, sondern für sich selbst, zu Hause als Entrée und erste Verbeugung vor der Musik schlechthin.

Deshalb war ich überrascht, als mein Klavierlehrer Erich Forneberg (ein Bachenthusiast durch und durch) mich einmal fragte, welche Stücke des Zyklus ich besonders mochte. Konnte ich darauf antworten? Gehörten sie nicht derart zusammen, dass es falsch gewesen wäre, einzelne besonders zu erwähnen oder hervorzuheben? Andererseits: Spielte ich nicht jeden Morgen nur eine bestimmte Auswahl, je nach Stimmung und Temperament?

Ich begann immer mit Präludium und Fuge in C-Dur, dann sprang und hüpfte ich im Zyklus hin und her. „Ich spiele jeden Tag andere“, antwortete ich meinem Lehrer, „ich mag sie alle.“ Mein Lehrer schaute mich an, und ich ahnte, dass er diese Antwort nicht nur unbefriedigend, sondern auch langweilig fand. „Na denn“, sagte er und lächelte.

Johann Sebastian Bach hat den Zyklus 1722 beendet, vor dreihundert Jahren. Eine kleine zeitliche Ewigkeit hat er also bereits hinter sich, die große aber steckt für immer in ihm selbst.