Was für eine fabelhafte Idee für eine Erzählerin! Die Schweizer Autorin Martina Clavadetscher hat sich neunzehn Porträts von Frauen angeschaut, die von bekannten Künstlerinnen oder Künstlern gemalt wurden.
In einem zweiten Schritt hat sie versucht, die Lebensgeschichten der Porträtierten zu erkunden. Wie hießen und wo lebten sie, wie kam es dazu, dass sie porträtiert wurden?
Solche Fragen führten zu ausführlichen Recherchen, zur Lektüre von reichlich Textmaterial, das sich im Hinter- oder Untergrund der Bilder angesammelt hatte.
Dieser genau recherchierte, faktische Stoff war die Grundlage für das eigentliche Erzählen: die Verwandlung des Faktischen ins Biografische, hier und da frei Erfundene!
Martina Clavadetschers Erzählungen machen die Porträtierten lebendig, sie führen aus der oft nur anonym gebliebenen Abbildung zu jenen Lebensprozessen, die auf den Bildern in vielsagenden Momentaufnahmen fixiert wurden.
Das Lesen der Bilder verwandelt sich in die Geschichten ihrer Entstehung – und die Porträtierten fangen „endlich“ (möchte man sagen) an zu sprechen und sich vom Dunkel der Geheimhaltung ihrer Herkunft und ihres Daseins zu befreien.
Was für ein gescheites, schönes Buch!
- Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Unionsverlag 2022
(Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen bedachten ersten Advent)