Wilhelm Genazinos „Traum des Beobachters“

Gestern wäre der Schriftsteller Wilhelm Genazino achtzig Jahre alt geworden. Auch aus diesem Anlass hat der Carl Hanser-Verlag ein Buch mit dem Titel Der Traum des Beobachters veröffentlicht, in dem die beiden Herausgeber (Jan Bürger und Friedhelm Marx) ausgewählte Aufzeichnungen Genazinos aus den Jahren 1972-2018 gesammelt haben.

Notate-Bücher wie dieses sind meine ganz besondere Leidenschaft, mit kaum einem anderen literarischen Genre beschäftige ich mich derart intensiv wie gerade mit diesem.

Warum sie mich so interessieren, kann ich sagen: In den meist privaten Aufzeichnungen einer Autorin oder eines Autors sind die besonderen Merkmale seiner Kreativität besonders gut erkennbar. Nur auf den ersten Blick sind Aufzeichnungen scheinbar schlichte Notate über dieses oder jenes, in Wahrheit gibt es aber kaum Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Auf versteckte und den Notierenden meist nicht bewusste Art sind die Kennzeichen ihrer sehr individuellen kreativen Impulse in sie eingelassen und diktieren ihre jeweilige Form.

Im Fall Wilhelm Genazinos sind die Notate kurze Ich-Erzählungen oder -Geschichten, die eine Erzählerfigur konfigurieren. Es ist der männliche Ich-Erzähler von Genazinos Erzählungen und Romanen, der durch das Notat aufgerufen und am Leben erhalten wird. Atmosphären und Beobachtungsmodi der literarischen Texte werden also durch die Notate kontinuierlich angesprochen, so dass der Einstieg in die Umsetzung jederzeit möglich ist.

Genazino hält den Ich-Erzähler seiner Literatur gleichsam bei Laune. Er darf ihm nicht abhandenkommen, sondern soll mit ihm Schritt halten, damit die Arbeit an Erzählung oder Roman keinerlei Einstiegsmanöver erfordert. Am 16. März 1992 notiert er: „Was ich suche, ist ein Romananfang, der mir die Welt beweglich macht.“

Darüber hinaus gibt es in Genazinos Aufzeichnungen natürlich unendlich viele blitzartige „Aufnahmen“: Lektüren, Reflexionen, besondere Wahrnehmungen. Dadurch entsteht eine ungemein belebende Wanderung durch einen fremden Kopf, die im eigenen Kopf ebensolche Wanderungen auslöst und provoziert. (Ich bemühe mich, einen Ich-Erzähler in mir zu finden, der mit der Buntheit von Genazinos Beobachtergestus mithält…)

Das belebende Moment des Lesens ist viel stärker als im Fall der Lektüre eines umfangreichen Romans, weil die Romanform der Leserin oder dem Leser lange Ruhe (womöglich sogar „Bettruhe“) verordnet, in der Lektüren zwischen Wachen und Dämmern verlaufen. (Auch schön, natürlich, aber nicht so belebend wie die Lektüre bestimmter Aufzeichnungen.)

Ich empfehle Genazinos „Der Traum des Beobachters“ daher sehr und würde fast pathetisch sagen, dass die Lektüre „gesund erhält“.

Der Hanser-Verlag hat ein Festival in ganz Deutschland organisiert, so dass Genazinos neues Buch an 20 Orten in Lesungen und Veranstaltungen vorgestellt wird. Hier die Hinweise auf Termine, Orte und Räume:

https://www.hanser-literaturverlage.de/files/genazino_folder_final.pdf?&sc_src=email_1797445&sc_lid=71793641&sc_uid=GA04BTz7ct&sc_llid=2571&sc_eh=df4a92f8899c46611