(Am 26.01.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Immer wenn ich unterwegs einen Menschen sehe, der nach wie vor eine Maske trägt, geht durch mich ein kleiner Ruck des Erinnerns. Vor drei Jahren haben die Extremzeiten der Pandemie begonnen, in meinen Augen war das der eigentliche Beginn einer „Zeitenwende“. Sie bestand in einem sich unerträglich lang hinziehenden Stillstand, aus dem zunächst keine Wege herauszuführen schienen.
Die leeren Straßen und Plätze, die geschlossenen Läden und Geschäfte, die Debatten um den Impfstoff, die überlasteten Krankenhäuser – all diese völlig ungewohnten, nie erwarteten und daher jede Wahrnehmung überfordernden Bilder und Stimmen erinnerten an längst überholte Vorstellungen vom Fegefeuer. Dort sollen sich, uralten Drohungen zufolge, jene Seelen in einem Übergangszustand zwischen Himmel und Hölle befinden, die keinen Einfluss auf ihre Zukunft haben und denen sogar verwehrt ist, genauer von der möglichen Befreiung zu wissen.
Ahnungslos und verzweifelt, so erschienen mir die meisten Menschen in meiner Umgebung, und viele stürzte dieser Schock in tiefe Depressionen. Sie gerieten außer Tritt, scheiterten an der einfachsten Bewältigung des Alltags, verloren Freunde, Partner und alte Gewohnheiten und landeten oft sogar in einem Abseits der Hilflosigkeit.
Wie rasch und rasant diese Erfahrungen und Schicksale gegenwärtig verdrängt werden, ist erstaunlich. Dabei übersehe ich nicht, dass der Ukraine-Krieg und die Klimakrise die Katastrophenszenarien der Pandemie abgelöst haben. Ihnen gehört gegenwärtig die fast ausschließliche Aufmerksamkeit der Medien ganz ähnlich wie in den Zeiten, als jede Nachrichtensendung mit der Bekanntgabe der Infektionszahlen und den Debatten um das Für und Wider von Masken, Tests und Impfstoffen eröffnet wurde.
Was gegenwärtig fehlt, sind Formate des Rückblicks und des genauen Erinnerns, die in der Zukunft helfen könnten, souveräner auf ähnlich katastrophale Prozesse zu reagieren. Momentan werden sie kaum noch wahrgenommen, als wären sie „verdammt lang her“ oder als hätte es sie nie gegeben. Dabei lohnte die Anstrengung, während der Pandemie getroffene Entscheidungen genauer zu durchdenken und zu überprüfen. Die beratenden oder auch kritischen Stimmen der Virologen sind jedoch nicht mehr zu hören, und der Abschied des leitenden Direktors des Robert Koch-Instituts erscheint wie ein Zeichen.
Jetzt scheint es nur noch darum zu gehen, so schnell wie möglich abzutauchen. Dabei sind die psychischen Folgen der Pandemie noch unabsehbar und haben nicht nur bei Kindern und Jugendlichen zu schwerwiegenden Schäden geführt, deren Folgen sich erst in einigen Jahren deutlicher zeigen werden. Vergessen und verdrängen – das könnte zu einer teilnahmslos hingenommenen Apathie in den Erlebnisformen einer Gesellschaft führen, die sich einmal nach nichts mehr gesehnt hat als nach der alten Normalität.
Im Hintergrund zeichnen sich die Schrecken der Pandemie jedoch noch immer ab. Sie führen zu leeren Rängen bei Veranstaltungen, geringeren Öffnungszeiten von Lokalen oder hinausgezögerten Insolvenzen. Ohne dass darüber viel gesprochen wird, ist die Gesellschaft so in Bewegung wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Arbeit wird ins Homeoffice verlagert oder neu definiert, und die Firmen müssen völlig neue Wege der Lieferungen gewaltiger Warenströme erkunden.
Was „global“, „territorial“ oder „regional“ da noch bedeutet, wird erst genauer erkennbar sein, wenn die sich abzeichnenden Neuordnungen der Weltsphären Gestalt angenommen haben. Die Zeitenwende von Pandemie und Nachpandemie hat die Welt durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt. Wohl denen, die einen Garten gerettet oder gefunden haben, um mit Voltaire daran zu denken, zumindest dieses Stück Leben zu kultivieren und sich darüber zu freuen. Der große Jean Paul hat solche Idyllen einmal wohlwollend, aber auch kritisch beschrieben: als „Vollglück in der Beschränkung“.