Im Visier der Marderhunde

Am ersten Frühlingswochenende bei 18 Grad zum Einkauf in der Stadt. Seltsames Empfinden: als wäre ich aus einem langjährigen Dunkel und einer anhaltenden Trance aufgewacht. Ist das heute mein privates Ende der Pandemie?

Ich streune umher und sehe mich um, alles erscheint verändert, jeder Winkel, jeder Bodenbelag, und beim Einkauf muss ich kurz überlegen, was ich eigentlich brauche und will. Kuriose Absenz.

Ich werde häufig gegrüßt, auch die Gesellschaft in meiner Umgebung scheint mich anders und neu wahrzunehmen. Bin ich überhaupt noch der Alte? Einer jungen Frau lasse ich an einem Käsestand den Vortritt, „bitte sehr, nach Ihnen!“, sie aber schüttelt den Kopf: „Nein danke, Alter vor Schönheit!“ Das hat gesessen, und ich taumle leicht angeschlagen durch den Parcours der Marktstände.

Sind die Verkäufer von früher noch alle da? Mein Freund aus dem Iran winkt mir zu und lädt mich an seine Theke: „Schön, Sie wiederzusehen! Wo waren Sie denn?“ War ich in der Fremde, bin ich verloren gegangen? Was war in letzter Zeit mit mir los?

Ich habe mich in unendlicher Arbeit verkrochen und mich in den nahen Wäldern herumgetrieben. Neue Bekanntschaften sind entstanden: Die mit den Lichtungen, den Waldtieren und Vögeln, den Holzfällern und Waldgängern, die auf einsamen Bänken sitzen und die Dateien ihrer Smartphones sortieren.

Wenn ich bei Ihnen Halt mache, sage ich merkwürdige Sätze wie „Die Forsythien blühen!“ Oder: „Wenn man doch die Vögel an ihren Lauten erkennen könnte! Jeden einzelnen! Stehenbleiben, zuhören und ein Erkennen abrufen: Das wäre es…“

Manchmal lächeln Passanten mir zu, aber ich weiß nicht, wen sie meinen und sehen. Noch immer denke ich, ich bin einer Katastrophe nur knapp entkommen. Der Virologe Christian Drosten, dessen Namen ich schon vergessen hatte, meldete sich: Er sei jetzt überzeugt, dass die Pandemie durch Marderhunde auf dem Markt von Wuhan an Menschen übertragen worden sei. Er habe das immer vermutet, jetzt belegten es bestimmte Forschungen, noch nicht eindeutig, aber zumindest probeweise.

Ich schaue mir Fotos der Tiere an. Sie wirken putzig, sympathisch, fast drollig. Ich lese, sie seien Allesfresser und lebten streng monogam, seien scheu und nachtaktiv.

Die Fotos bringen mich durcheinander, als lebten diese Tiere in meiner Nachbarschaft, im Unterholz meiner Gärten, in den Schuppen, in denen ich die Gartengeräte aufbewahre. Oder als wären sie vom Markt in Wuhan längst auf den Markt übergesiedelt, den ich gerade durchstreife. In Zukunft werde ich ihn nur noch mit Mundschutz betreten.

Aber habe ich noch einen Mundschutz? FFP2-Masken hatte ich früher reichlich, zur Sicherheit in fast jeder Tasche. Ich schlendre weiter, eine Bekannte hält mich an und deutet auf mein Gesicht: „Du trägst immer noch Maske? Du solltest wieder mutiger werden.“

Sollte ich? Ich nehme die Maske ab und schaue ins Freie, ich spüre einen kühlen Luftzug und taste mit den Fingern an der rechten Backe entlang. Glatt, seltsam empfindlich, als habe man die Haut abgezogen. Mal sehen, wie es so weiter geht: ohne Maske, schutzlos, im Visier der Marderhunde.