Die Schreibakademie beginnt in der SALA von Wissen/Sieg

Heute beginnt um 15 Uhr meine dreitägige Schreibakademie (nach Hildesheimer Vorbild) mit zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Zur Einstimmung gab es vorgestern eine Lesung im Wissener Kulturwerk: Martin Kordić stellte seinen Roman Jahre mit Martha vor, und ich unterhielt mich mit ihm über die Entstehung. Dabei ging es bereits um Prozesse von „Kreativität“ sowie ihre Erfahrung und Steuerung.

Der Physiker Henri Poincaré hat vier Phasen des kreativen Prozesses und der Ideenfindung unterschieden: 1) Die Präparation, 2) Die Inkubation, 3) Die Illumination und 4) Die Verifikation.

Daran erinnerte ich mich, als ich die Lesung von Martin Kordić moderierte. Kordić hatte nämlich davon gesprochen, dass er lange Zeit Vorarbeiten oder Vorstudien zu seinem Roman gemacht habe, ohne einen Anfang oder Einstieg in den möglichen endgültigen Text zu finden.

Viele Autorinnen und Autoren berichten von dieser ersten Phase der Vorbereitung eines längeren Textes (Präparation), in der Skizzen, Ideen oder Szenen gesammelt werden und Figuren oder Handlungsstränge entstehen. Dieses Material (oder: Die Weltfolie) beginnt dann zu wuchern, stellt sich auf, bricht wieder zusammen, bleibt für die Schreibenden aber noch einige Zeit auf Distanz (Inkubation).

Darüber werden viele manchmal unduldsam oder ungeduldig, sie verwerfen einzelne Momente, gruppieren immer aufs Neue um und kommen einem möglichen Einstieg in das endgültig wirkende Schreiben keinen Schritt näher.

Das geschieht erst in der oft überraschenden und euphorisch stimmenden Phase der Illumination. Plötzlich leuchten ein einzelner Satz oder mehrere Sätze und verweisen auf eine denkbare Fortsetzung.

Im Fall von Martin Kordićs Romanentstehung waren es genau zwei Sätze, die eine Illusion des denkbaren Anfangs enthielten und die bisher vorhandene Distanz abbauten: Ich sah Martha zum ersten Mal auf dem vierzigsten Geburtstag meiner Mutter. Damals wusste ich noch nicht, dass sie Martha hieß, ich kannte sie nur als „Frau Gruber“.

Mit diesen Sätzen beginnt ein Ich-Erzähler die Geschichte eines Kennenlernens oder einer Freundschaft, ja vielleicht sogar einer Liebe, in deren Verlauf aus einer „Frau Gruber“ eine „Martha“ wird. Dieser Ich-Erzähler erinnert sich, er versucht, den großen Bogen in den Blick zu bekommen, der sich zu einer langen Geschichte, zu „Jahren mit Martha“, entwickelt.

Der Einstieg in den Roman erscheint daher als Rückblick, so dass es am Ende des ersten Kapitels heißt: Auch viele Jahre später erzählten wir uns dieses Kennenlernen immer wieder neu und mussten gemeinsam darüber lachen.

Martin Kordić sprach weiter davon, dass er nach diesem Einstieg fast sechzig Seiten habe weiterschreiben können, ungehemmt, fließend, undistanziert, aufgefangen von der angedachten Geschichte. Nach diesem gelungenen Beginn habe sich später dann eine Phase des Ausbaus, der Durchführung und Entwicklung aufgetan, die zur Arbeit an den weiteren Kapiteln und Teilen des Romans geführt habe (Verifikation).

Leserinnen und Leser können den Roman vor dem Hintergrund dieses Wissens vertieft erleben – als Stationen des Kennenlernens eines Lebens zu zweit, aus dem sich für den Ich-Erzähler ein eigenes Kennenlernen entwickelt, das ihn zu seiner Herkunft und ihren Wurzeln zurückführt.