Das österliche Leben

(Heute, am 6.4.2023, auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Das österliche Leben meiner Kindheit begann am Gründonnerstag. Meine Eltern reisten mit mir zum Großelternhaus, wo wir unter dem Dach untergebracht wurden. Ostern war mehr als alle anderen Feiertage eine Zeit des familiären Zusammenseins, mit festen Riten und Abläufen. Am Gründonnerstag kam die Großfamilie meiner Mutter daher von überallher zusammen. Noch war Fastenzeit, üppige Mahlzeiten waren nicht denkbar, aber in der Küche liefen längst die Vorbereitungen für das Fest.

Jedes Mal war die starke Erwartung eine von Helligkeit, Licht und Frühlingserwachen. Deren Farben waren Weiß, Hellgrün und Hellgelb, und wir wussten genau, wo wir sie am Ostersonntag sehen würden: Auf den weiten Wiesen nahe dem kleinen Flüsschen, wo die Weißdornhecken blühten, das junge Gras sich zum Himmel reckte und die gelben Narzissen die Köpfe im Wind baumeln ließen.

Am Gründonnerstag liefen im Radio Szenen der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, die am Karfreitag die Programme so ausschließlich beherrschten, dass man kaum noch etwas anderes zu hören bekam. Der Tag war mit Verboten belegt: keine lauten Stimmen, kein Tanzen und Singen, strenges Fasten. Am späten Mittag entstand eine besondere Niedergeschlagenheit, die auf den Kreuzestod des Erlösers reagierte. Man wusste nicht mehr wohin mit sich und schlich nach draußen, zu einem Spaziergang über die Felder. Abends gingen wir Kinder früh zu Bett und träumten bereits vom Osterfest.

Der Karsamstag verging mit lauter Anläufen, dem Färben der Ostereier, dem Backen von Osterkuchen für das Osterfrühstück, der Zubereitung von Lammbraten und Gemüse. Frühmorgens zogen wir in kleinen Scharen zur Osternacht in die katholische Kirche, wo der Pfarrer so oft und häufig „Christus resurrexit, halleluja!“ rief, bis wir für die Dauer des Gottesdienstes auch an die Auferstehung des Gottessohnes glaubten. Das Gottesdienstlatein sorgte für eine gewisse Distanz, es war die fremde Sprache der Eingeweihten, die man nie so ganz verstehen würde.

Das setzte sich nach dem gemeinsamen Frühstück fort, wenn alle vor dem Fernseher saßen, um den Papst aus Rom seinen „Urbi et orbi“-Segen erteilen zu sehen. Auch der Papst rief „Christus resurrexit, halleluja!“, die Botschaft war also von globaler Gültigkeit und betraf auch all jene fernen Völker und Länder, die jeweils in ihrer Heimatsprache gegrüßt wurden. Dann folgte das festliche Mittagessen, stundenlang, eine resolute Abwendung vom Fasten, betont alkoholisch, bevor der typische Osterspaziergang absolviert werden musste. Auf den Wiesen nahe dem Flüsschen wurden hart gekochte Eier möglichst weit geworfen und durften nicht zerplatzen. Der genossene Alkohol führte zu Rekordwürfen, dem stärksten Ausdruck des österlichen Übermuts und einer Freude, die nicht so bald wiederkommen würde.

So hatte das alte, längst vergangene österliche Leben noch viel vom heidnischen Brauchtum. Im Grunde war es ein Frühlingsfest, überhöht durch biblische Botschaften, denen man sich nicht gewachsen fühlte und die man skeptisch gerade noch gelten ließ, ohne fest an sie zu glauben. Inzwischen ist dieser Glaube den meisten ganz abhandengekommen, und was der Papst in Rom verkündet, mag kaum jemand noch hören und sehen. Nicht nur der Glaube, sondern auch die Kirche hat ihre Rolle im Dasein verloren, und so wirken die Erinnerungen an das österliche Leben wie Erzählungen aus einer anderen Welt. Wohl dem, der noch ein Osterfeuer erlebt, das keine Behörde verboten hat! Im Blick auf das nächtliche Feuer schwant so manchem noch etwas von der österlichen Kehrseite des Schreckens, dem ausgelassenen Spiel mit dem Feuer.

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich entspannte, intensive Tage und Frohe Ostern!